Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
Vom Netzwerk:
Amtseid ablegte – seine Frau trug Rot unter einem grauen Himmel.
    Doch das eigentliche Drama fand im Flugzeug statt, als diese Leute weinten, redeten und sich sorgten, alles sei nur ein Täuschungsmanöver und sie würden im Kreis herumgeflogen, in einem weiteren Akt der Grausamkeit. So wie Sheldon es wahrnahm, als er die Fernsehbilder sah, lag der Hauch der Geschichte nicht über Reagans selbstbewusster Rede, sondern über dem einsamen, nachdenklichen Blick Jimmy Carters, als er, nun nicht mehr Präsident, auf der Landebahn stand. Der Hauch der Geschichte wehte über Leute wie ihn und Mabel und Bill Harmon hinweg, über seinen Kollegen aus dem Pfandhaus einen Block von seiner Wohnung in New York entfernt.
    Mabel las in jenen Tagen die Zeitung. Sie bildete sich eine Meinung am Ende jedes Artikels und gestattete ihnen dann, sich wieder zu verflüchtigen wie das Wasser in einem vertrockneten Tümpel. Sie untersagte Sheldon, im Haus über Politik zu diskutieren, woran ihm im Übrigen gar nicht gelegen war. Saul war 1980 erst seit sechs Jahren tot – was, so ist das mit der Zeit, nicht einmal ein Augenblick war.
    Die Stadt erschien ihnen still, nutzlos. Eine endlose Folge vorbeizischender gelber Taxis. Schwarze Laken aus dichtem Regen. Die Palette der Grüntöne von einem Bauernmarkt. Ein rotes Steak zum Abendessen. Dann wieder Schlaf. Die einzige Bewegung kam von den Uhren in Sheldons Laden.
    Das Uhren- und Antiquitätengeschäft lag in Gramercy, in einer Seitenstraße der südlichen Park Avenue. Zufällige Passanten übersahen die Tür mit den dicken Eisenstäben leicht, die sich zu der kleinen Werkstatt im vorderen Bereich und dem sich daran anschließenden größeren Verkaufsraum öffnete.
    In den frühen Achtzigern hatte Sheldons Geschäft mit einem aus Japan kommenden Phänomen namens «Digitaluhr» zu kämpfen. Die Dinger bestanden aus extrem wenigen beweglichen Teilen und liefen bemerkenswert genau, regten unerklärlicherweise die Phantasie der Leute an und waren billig. Und das Schlimmste: Das war ein Wegwerfartikel. Die Schweizer Uhrenindustrie war in Aufruhr, und alle, deren Lebensunterhalt von ihr abhing, genauso. Waren früher Männer und Frauen jedweder sozialen Schicht wegen kleinerer Reparaturen in Sheldons Laden gekommen oder um Teile ölen oder eine neue Dichtung einbauen zu lassen, so hatte er es jetzt nur noch mit den Oldtimern zu tun. Die Qualität der Uhren nahm jetzt stetig zu, da die Leute die billigen Uhren einfach wegwarfen und nur noch die guten reparieren ließen. Es gab also weniger Kunden, die Arbeit war komplizierter, aber die Einnahmen blieben unverändert. Das Jahrzehnt wurde immer stiller und belangloser.
    Drei Türen die Straße rechts runter befand sich Bill Harmons Leihhaus. Bill war ebenfalls in den Fünfzigern, ein Amerikaner irischer Abstammung mit einer weißen Haartolle über seinem knallroten Gesicht. Er und Sheldon schickten Kunden von einem zum anderen, als wären es Pingpongbälle.
    «Nicht bei mir. Versuchen Sie mal Bills Laden. Er kauft Elektrowerkzeug.»
    «Nein, nein. Mit dieser edlen goldenen Armbanduhr gehen Sie mal besser zu Donny. Ich kenn mich mit so was überhaupt nicht aus!»
    «Das ist eine Nikon. Was soll ich mit einer Nikon? Gehen Sie zu Bill.»
    «Gehen Sie zu Donny.»
    «Gehen Sie zu Bill.»
    «Hier, Donny, schau dir das mal an», sagte Bill eines Tages. Er reichte Sheldon eine bemerkenswert flache goldene Uhr mit Armband aus Echtleder von Patek Philippe. «Der Typ meinte, die hätte er in Havanna gekauft, bevor die Roten kamen. Wollte sie mir verkaufen. Ich hab ihn zu dir geschickt, aber …»
    «Ich war spät dran.»
    «Du warst spät dran. Und da hab ich sie gekauft.»
    Sheldon trug eine Lederschürze und ein weißes Hemd und hatte die Lesebrille oben auf die Stirn geschoben. Er sah ein wenig mitgenommen aus, und in seinen blauen Augen schimmerte der Widerschein des Nachmittags. Nicht, dass Bill das aufgefallen wäre. Bill hatte kein Gespür für Dramatik, für das Vergängliche, das Übersinnliche. Für Bill gab es nichts Magisches. Was schade war, denn so, wie Sheldon die Sache sah, besaß Bill einen der magischsten Läden in New York – von seinem eigenen abgesehen –, und niemand hatte dies besser gewusst als sein Sohn.
    Zu Sauls kindlichem Vergnügen war Bills Laden genauso groß wie der von Sheldon. Die identische Größe war es wohl, die Saul veranlasste, sich auch dort ganz heimisch zu fühlen. Bill, der geschieden war und kinderlos, gefiel

Weitere Kostenlose Bücher