Ein seltsamer Ort zum Sterben
Seite, klar?»
Der Junge knabbert schweigend am Rest seiner Eiswaffel und schaut auf seine Gummistiefel.
«Du wirst einen Namen brauchen. Wie heißt du?»
Die Paddington-Bären baumeln hin und her.
«Ich bin Donny.» Er deutet auf sich selbst. «Donny. Du kannst es mit ‹Mr. Horowitz› versuchen, aber ich fürchte, da kommst du nicht weit. Donny. Ich bin Donny.»
Er wartet.
«Augenkontakt wär jetzt gar nicht so schlecht.»
Er wartet erneut. Noch eine Polizeistreife fährt mit lautem Sirenengeheul vorbei.
Sie sitzen auf einer Bank beim Zoologischen Museum. Plüschiges Gras, Bäume in voller Blüte. Lilien wuchern unter Büschen hervor, und Kinder, viele im Alter des Jungen, gleiten auf seltsamen Turnschuhen vorbei, die Rollen in den Absätzen zu haben scheinen.
Eine dunkle Wolke schiebt sich vor die Sonne, bringt Kühle und tausend Schatten.
Sheldon spricht weiter für sie beide. Schweigsamkeit ist nicht so seine Stärke.
«Mein Sohn hieß Saul. Nach dem ersten König Israels. Das war vor dreitausend Jahren. Saul hatte ein schweres Leben. Und es war eine schwere Zeit. Die Philister hatten die Bundeslade gestohlen, den Leuten ging’s schlecht, und Saul musste Ordnung schaffen. Ist ihm gelungen, auch wenn’s nicht lange gehalten hat. Er hatte viele Fehler, kein Zweifel. Aber er hatte auch seine Stärken. Mit am liebsten mag ich die Geschichte, wie Saul das Leben von Agag verschonte. Das war der König der Amalekiter. Sauls Heer besiegte sie, und wie Samuel, den ich übrigens nicht mag, schreibt, sollte Saul Agag töten, weil dies der Wille Gottes war. Aber Saul schenkte ihm das Leben.
Ich sehe diese Männer, Männer wie Saul, wie Abraham. Sie hören Gottes rachsüchtige Stimme, der befiehlt, Sodom und Gomorrha zu zerstören, den besiegten König zu töten. Doch diese Männer stehen zwischen Gott und dem, was er zerstören will, und weigern sich. Und da frage ich mich selbst erstaunt: Wer gibt ihnen diese Gedanken ein, was richtig und was falsch ist, wenn nicht Gott selbst? Es ist, als habe sie irgendwann ein Urwissen durchströmt – ein derart tiefreichendes Wissen, dass nicht einmal Gott sich in seinem Zorn daran erinnert. Unerschütterliche Wahrheiten, auf denen jüdische Männer wie auf festem Boden standen, um unbeirrt gen Himmel zu blicken. Was für Wahrheiten waren das? Wo sind diese Männer hin?
Ich stelle mir Abraham vor, wie er auf einem Hügel steht, einem rötlichen Hügel, oberhalb von Gomorrha, während sich die Wolken bedrohlich zusammenballen, und er streckt die Hand zum Himmel und ruft: ‹Wirst du diese Stadt zerstören, wenn es noch einhundert Gerechte darin gibt?› Und in diesem Augenblick, obwohl er vollkommen erschöpft ist, steht er den ewigen Mächten gegenüber und hat die höchste Ebene des Menschseins erreicht. Dieser eine Mensch. Er steht da mit seinen schmutzigen Füßen, ein schmuddeliges Gewand im heißen Wind, der ihn anweht. Verwirrt. Allein. Traurig. Von Gott verraten. In dem Augenblick wird er zur Stimme hinter der Stimme. Zum Stellvertreter aller Menschen. ‹Ist Gott gerecht?›, fragt er sich. In dem Moment begreift die Menschheit, was Bewusstsein ist.
Gott hat uns vielleicht den Atem eingegeben. Aber erst als wir ihn gebrauchten, um Gott zu korrigieren, wurden wir zu Menschen. Wurden, für was für eine kurze Zeitspanne auch immer, zu dem, was wir sein können. Nahmen unseren Platz im Universum ein. Wurden zu Kindern der Nacht.
Und dann beschloss Saul – mein Saul –, nach Vietnam zu gehen, weil sein Vater in Korea gewesen war, und sein Vater ging nach Korea, weil er nicht nach Deutschland gegangen war. Und Saul ist dort gestorben. Wegen mir. Ich hatte ihn ermutigt. Ich glaube, ich habe meinen Jungen im Namen einer moralischen Streitfrage umgebracht. Aber recht besehen war ich natürlich kein Abraham. Kein Saul. Und Gott gebot mir nicht Einhalt.»
Soweit er sich erinnern kann, sieht ihn der Junge zum ersten Mal an. Daher lächelt er. Es ist jenes Lächeln, zu dem nur alte Leute fähig sind. Jenes Lächeln, dem die Bedeutung des Augenblicks wichtiger ist als seine Realität.
Der Junge lächelt nicht zurück. Also lächelt Sheldon für sie beide.
«Dann war da noch der andere Saul – Rabbi Saul von Tarsus. Ein Römer. Der gerne mal vom Pferd fiel. Er hat die frühen Christen verfolgt, behauptet ihr Gois, bis er auf der Straße nach Damaskus eine Erscheinung hatte, eine Vision. Und so wurde Saulus zum Paulus. Und Paulus wurde zu einem Heiligen der Kirche.
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