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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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mit sich herum. Diese ganze aufgestaute Wut. Ich weiß noch, als ich klein war, sah er mich immer mit so einer Liebe und Zärtlichkeit an, aber dann, auf einmal, wurde er ganz zornig. Nicht wegen mir. Er war eigentlich nie richtig böse auf mich. Aber genervt. Er war die ganze Zeit genervt. Er warf die Hände in die Luft und fragte mich, was ich mir gedacht hatte. ‹Wie kommst du darauf, dass das eine gute Idee ist?›, fragte er immer.
    Er hat mit der Welt selbst gehadert. Als ich älter wurde, sagte er immer, mir in die Augen zu schauen sei für ihn ein Beweis für die unendliche Tiefe des Menschseins und alles, was verloren geht, wenn ein Mensch aus unserer Mitte gerissen wird. Und dann fiel ihm die Art von Leuten ein, die einem Kind ins Gesicht schauen und ihm im nächsten Augenblick körperlich wehtun, und er fing an, darüber nachzudenken, was wir anderen dagegen tun könnten.
    Und dann redete er über den Holocaust. Über die Nazis, die Kindern in den Kopf schossen, nur um zu beweisen, dass sie keine Waschlappen voller Mitgefühl waren, sondern tatsächlich Übermenschen, wie Hitler behauptet hatte. Sie banden Familien mit Klaviersaiten zusammen, warfen sie in die Donau und erschossen nur Einzelne, damit der Rest ertrank. Sie vergasten sie. Warfen sie in Gräben und schütteten sie, noch während einige lebten, mit Kalk zu …»
    «Hör auf», flüsterte Lars.
    «Du willst, dass
ich
aufhöre?», schreit sie und haut auf den Tisch.

    Sheldon wacht auf. Er rasiert sich nicht und nimmt auch kein Bad. Stattdessen geht er als Erstes zur Tür, vor der die
Aftenposten
liegt. Er kann sie nicht lesen, aber er sucht nach etwas Bestimmtem und findet es auch.
    Es ist das Bild eines Mietshauses, der Eingang mit Absperrband verklebt. Eine Gruppe Menschen steht davor. Die Frau ist also wirklich tot. Es ist, als würde das reale Erleben durch die Bestätigung der Welt noch einmal so real. Vielleicht ist dies aber auch nur eine Facette der Demenz, die Mabel ihm verbissen attestiert hat.
    Du brauchst Beweise.
    Schön. Beweise. Finde ich. Kann ich jetzt gehen?
    «Ich habe nicht einmal einen Krankenwagen gerufen», sagt er laut. «Was für ein Untier bin ich bloß? Wie konnte ich das vergessen? Wäre sie noch am Leben, wenn ich gekämpft hätte? Wenn ich wenigstens um Hilfe gerufen hätte?»
    Und dann ist da der Junge. Der gerade in die Toilette pinkelt. Der über den Rand zu zielen versucht, ohne eine Sauerei zu veranstalten. Der die Spülung betätigt und dann den Wasserhahn aufdreht. Der seine kleinen Hände unterm Wasserstrahl wäscht, wie seine Mutter es ihm beigebracht hat, und den Hahn dann zudreht, so fest er kann, und sich die Hände an einem frischen Handtuch abtrocknet, um dann aus dem Badezimmer zu kommen, während er sich den Gürtel zuschnallt.
    Aus dem Artikel erfährt er, dass ihr Name Senka war, nicht Vera. Soweit er das beurteilen kann, wird der Junge nicht erwähnt. Wenn dem so ist, dann ist da jemand sehr vorsichtig hinsichtlich der Art, wie diese Geschichte erzählt wird.
    Sheldon duscht, rasiert sich und zieht ihnen beiden frische Kleidung an, die von der Rezeption heraufgebracht wurde. Er schaut unters Bett, ins Badezimmer, in die Schubladen und in die Ritzen der Betten und der Sessel, um ganz sicher zu sein, dass nichts zurückbleibt, woran man sie identifizieren könnte. Seit 1955 hat er nicht mehr die Zeche geprellt, und das will geübt sein. Er möchte nichts falsch machen, wenn die Folgen so weitreichend sein könnten.
    Als er die Vorbereitungen zur Flucht getroffen hat, setzt er sich auf die Bettkante und überlegt. Er denkt langsam und konzentriert nach.
    Wenn die Polizei von der toten Frau wusste, dann wusste sie auch Bescheid über den Jungen. Und da Sheldon letzte Nacht nicht nach Hause kam, ist Rhea mittlerweile wahrscheinlich ausgetickt.
    Sheldon fällt plötzlich ein, dass Rhea womöglich in der Wohnung auf die Leiche der Frau gestoßen ist. Dass sie denken könnte, man habe auch ihn umgebracht. Einen Tag nach ihrer Fehlgeburt.
    «Dieses Leben hier? Ich soll dir sagen, was ich von diesem Leben halte?»
    Er hält die Zeitung in Händen und schaut auf das Gebäude. Sie werden Jagd auf den Mörder machen, und wahrscheinlich auch auf den Jungen. Sie werden nach ihm suchen, aus irgendeinem Grund. Und wenn der Mörder hinter dem Jungen her ist, werden sie jedes Flugzeug, jeden Zug oder Bus überprüfen und die Stadt abriegeln.
    «Es ist wie in der Navy», sagt er laut. «Man kontrolliert die

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