Ein seltsamer Ort zum Sterben
Familienmitglieder jener Männer abgesehen, die ihnen das angetan hatten. Als der Krieg dann beendet war, blieb noch manche Rechnung offen.
Der Tag, der ihn nach Oslo brachte, hatte in Gracko begonnen. Die serbischen Jungen und Männer arbeiteten auf den Feldern. Es herrschte eine brütende Hitze. Enver lag an einem giftiggrauen Bach; das Gewehr auf die Faust gestützt, blickte er durch die Kimme an dem langen Lauf entlang. Die Fliegen auf seinen Haaren und seinem Gesicht kitzelten ihn. Es war schwierig, den Bauern durch das eingekerbte Blechteil im Visier zu behalten.
Seine anderen Männer, insgesamt zwölf, waren im Wald am Feldrand. Enver hatte das Ziel ausgesucht. Es war seine Mission. Das Töten würde beginnen, sobald er abgedrückt hatte.
Und das tat er auch. Doch der Bauer fiel nicht zu Boden. Stattdessen drehte sich der Mann nach links um und suchte nach dem Ursprung der kleinen Explosion. Vielleicht der Vergaser eines Autos? Eine Hacke, die auf einen im Boden eingegrabenen Ziegel gestoßen war? Alles, nur nicht das, was es tatsächlich war. Denn der Krieg war doch vorbei, oder?
Dann fiel der Bauer hin, ein anderer Schuss hatte ihn erwischt – ihn unvermutet getötet in einem Augenblick der Verwirrung. Vielleicht galt sein letzter Gedanke dem Frieden, in dem er lebte, und der Sicherheit seiner Familie. Das hoffte Enver zumindest. Denn im Leben nach dem Tod würde er sich für diese letzten Momente schämen. Und vielleicht wäre dies das erste Mal, dass er Scham empfand. Vielleicht würde er dank dieses Gefühls begreifen, was er und sein Volk anderen in diesem Leben angetan hatten.
Enver war ein schlechter Schütze. Seine Opfer starben, eines ums andere, durch die Hände anderer Männer seines Teams, was ihn zunehmend wütend machte. Er schien unfähig, richtig zu zielen. Seine Landsleute würden irgendwann anfangen, sich darüber zu beklagen, dass er seine Pflichten nicht erfüllte, dass er nichts zur Ehre des Volkes beitrug. Sie würden heimlich seine Männlichkeit in Zweifel ziehen – über sein Unvermögen spotten, im Namen seines Volkes Rache zu nehmen an diesen Räubern.
Wegen der Fliegen. Weil ihn die verdammten Fliegen abgelenkt hatten.
Als er keine Kugeln mehr hatte, ließ er das Gewehr fallen und rannte auf das Feld hinaus, um irgendjemanden mit bloßen Händen zu töten.
Es war trocken. Seine Füße schlugen auf dem rissigen Boden auf, im Takt zu seinem pochenden Herzen. Ein Junge, vielleicht vierzehn, stand wie ein erstarrtes Reh da und klammerte sich an einen Rechen, als Enver auf ihn losging. Der Junge war vor Schreck wie gelähmt. Er pinkelte in sein linkes Hosenbein wie ein kleines Kind. Doch bevor Enver bei ihm war und ihm die Kehle aufschlitzen konnte, schlug dem Jungen eine Kugel in den Hals, Blut spritzte auf das goldene Feld.
Der Junge stürzte zu Boden, er rief nach seiner Mutter, als Enver sich den Rechen schnappte und auf das Bauernhaus zurannte.
Sie hatten kein Recht, sich zu beklagen, diese Serben, schließlich hatten sie ihm dasselbe in Vushtrri angetan. Sie waren für das, was hier geschah, selbst verantwortlich. Wut entsteht nicht aus sich selbst heraus. Sie ist das Produkt des Verhaltens anderer. Wir alle müssen uns darauf gefasst machen zu ernten, was wir säen. Diese Bauern – diese Mörder – waren Vollidioten, dass sie es nicht getan hatten. Und jetzt, in seinem unendlichen Ratschluss, berief Gott sie zu sich.
Vushtrri. Auch Envers Familie hatte sich auf dem eigenen Land abgerackert. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, ein Tag wie dieser hier. Das tägliche Leben bestand aus lauter Details: ein bisschen Durst, eine Blase an der Hand, ein mit halbem Ohr gehörter schlechter Witz, eine störrische Wurzel, die sich nicht aus dem Boden lösen ließ. Die Serben kamen in Uniform, sie gingen langsam. Sie hatten keine Eile. Sie waren in dienstlicher Mission hier. Um sie auszumerzen. Um sie wie Ratten aus dem Garten Eden zu vertreiben.
Envers Familie war umstellt.
Sie vergewaltigten seine Schwester. Sie schnitten ihr die Ohren ab. Sie stachen ihr ein Auge aus. So würde sie weiterleben müssen. Enver war nur ein Junge. Er hatte sich im Schrank versteckt und mit anhören müssen, wie draußen seine Schwester schrie, selbst zu verängstigt, um einzugreifen. Als er in die Küche spähte, um zu sehen, was passiert war, hörte er jemanden lachen. Bis zum heutigen Tag ist er sicher, dass es der Teufel war.
Und hier waren sie nun, die Mörder, Jahre später. Die
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