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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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strategischen Punkte wie Gibraltar, den Bosporus, Panama oder den Suezkanal. Hat man diese Punkte unter Kontrolle, wartet man einfach, bis der Feind zu einem kommt. Und genau das werden sie tun. Genau das würde auch ich tun. Die Norweger sind vielleicht nicht die Entschlussfreudigsten, aber es sind keine Idioten. Sie werden darauf warten, dass wir in die Falle gehen.»
    Sheldon sieht zu Paul hinüber, der einen Zeichentrickfilm auf Norwegisch guckt.
    «Ich weiß, was du denkst – ich sollte dich zurückbringen, dich abgeben. Aber was ist, wenn sie das Monster nicht verdächtigen? Was passiert, wenn sie dich in seine Obhut geben? Wenn sie mich für einen verrückten alten Mann halten, dessen Aussage keinen Pfifferling wert ist? Und sein Gesicht habe ich sowieso nie gesehen. Ich wette, Rhea hat denen schon erzählt, dass ich plemplem bin. Und was dann?
    Ich werde dich nicht zurückbringen, bevor sie ihn nicht geschnappt haben. Okay? So, und wie kommen wir jetzt hier raus?»
    Sheldon stellt sich die Stadt vor, so wie er sie kennt. Er malt sie sich als Kristall mit einem wilden smaragdgrünen Wald in der Mitte aus, der von kleinen blauen Bächen durchzogen ist. Er stellt sich Flugzeuge, Züge, Taxis und Autos vor. Er denkt sich die Polizei und das Monster hinzu, die auf jeder Seite der Kristallstadt sitzen und hineinstarren. Und nach dem alten Mann und dem kleinen Jungen suchen.
    «Der Fluss», sagt er schließlich und meint den Oslo-Fjord.
    Sheldon lässt die Zeitung sinken, reibt sich das Gesicht.
    «Ich möchte nicht auf dem Fluss fahren.»

    Beim Frühstück nimmt Lars die Serviette vom Schoß und legt sie neben seinem Teller auf den Tisch. Er lehnt sich ein wenig zurück. Rhea lässt das Kinn in die Handflächen sinken. Lange Zeit sagen sie nichts.
    «Was hätten wir heute getan?», fragt Rhea schließlich.
    «Du meinst, wenn all dies nicht passiert wäre?»
    «Erzähl mir eine Geschichte.»
    Als sie klein war und bei ihren Großeltern in Manhattan lebte, träumte sie von Neuengland, so wie Sheldon es ihr beschrieben hatte. Die Hügel der Berkshires hoben und senkten sich wie Wellen, auf denen feuchte Herbstblätter schwammen. Ein riesiges Puppenhaus trieb auf dem Blättermeer. Drinnen schlitterten die Blaubeerpfannkuchen auf dem Frühstückstisch hin und her. Als die Pfannkuchen auf Sheldons Seite ankamen, nahm er einen Bissen und schob sie zu Rheas Ende hinüber, wo sie wiederum abbiss. Mabel saß zwischen ihnen und versuchte, frischgepressten Apfelmost in eine Karaffe zu füllen, ohne etwas zu verschütten.
    Auch der Teddybär hinter ihr auf der Truhe wippte und rutschte hin und her, seine blaue Krawatte flatterte wie ein Schmetterling.
    Beim Frühstück im Puppenhaus erzählten sie sich Geschichten.
    Das Sommerhaus war jetzt ihr Puppenhaus; Hedmark, das waren ihre Berkshires. Und so entwickelt sich das Leben, und unsere Träume werden auf ganz andere Art wahr, als wir je vermutet hätten.
    Lars liefert ihr die Bilder. Er erzählt ihr Geschichten in ihrem Puppenhaus. Im Sommer liegen sie im Gras und im Winter unter der Bettecke. Zusammen fliegen sie durch Welten, die zugleich wunderbar und traurig sind.
    Heute Morgen – der Morgen des zweiten Tags – möchte er irgendwo anders sein.
    Lars erzählt also. Er beschreibt einen schönen Tag in dem Buchladen mit der Terrasse bei der Aker Brygge, den Sommerschlussverkauf am Bogstadveien, ein Eis irgendwo an einer Ecke der Grünerløkka und Zimtschnecken in der Apent Bakeri gegenüber vom neuen Literaturhaus in der Nähe des Königlichen Palastes. Rhea folgt der umständlichen Route im Geiste und stellt sich vor, dass sie einen Kinderwagen schiebt.
    In dem Kinderwagen liegt ihr Baby, es ist zwischen drei und vier Monate alt. Sie schaut hinein. Es ist ein Junge, er schläft. Er schaukelt hin und her, während der Wagen durch die Straßen der Stadt geschoben wird. Er wacht nicht auf, wenn die Räder von der Straße auf dem Bürgersteig holpern. Das ist Teil des Rhythmus dieser Stadt, und er kam hier zur Welt. Hier, so weit weg von ihrem Zuhause. Er ist von hier und wird doch nie hierhergehören.
    Während sie Lars zuhört, bevölkert sie die Stadt mit bekannten und unbekannten Gesichtern. Sie passt den Kleidungsstil an die jeweilige Umgebung an. Sie muss daran denken, wie Sheldon die Stadt immer in Bezug zu New York gesetzt hat.
    «Frogner ist der Central Park», sagte er dann. «Grünerløkka ist Brooklyn. Tøyen ist die Bronx. Gamlebyen ist Queens. Und diese

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