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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Aber ich stelle mir folgende Frage: Woher kam Onan der Gedanke, dass Anweisungen Gottes unmoralisch sein könnten? Dass es so etwas wie Moral gab, einen Code, der von einem Ort tief im Inneren der menschlichen Seele stammt – dort, wo unsere Einzigartigkeit, unsere Sterblichkeit verankert sind – und der bereits Richtig und Falsch mit solcher Klarheit voneinander geschieden hat, dass er die mächtigste Autorität überhaupt in Frage stellen und seinen eigenen Kurs einschlagen konnte?
    Daher lautet die eigentliche Frage: Warum konnte ich nicht etwas davon meinem eigenen Sohn in die Brust pflanzen, damit er den Mut gehabt hätte, aufzustehen und mir mein eigenes Versagen vorzuhalten und sich zu weigern, in einen nutzlosen Krieg zu ziehen, der ihn umbrachte? Dann hätte er mich nämlich überlebt. Warum konnte ich meinem Sohn nicht mehr von diesem … was auch immer geben?»
    Dann sieht Sheldon Paul an, der weiterhin auf den Bildschirm starrt.
    «So, und jetzt komm her und lass dir mal die Gummistiefel ausziehen.»

6. Kapitel
    Nachdem Rhea und Lars das Polizeirevier verlassen hatten, waren sie stundenlang auf gut Glück durch die Stadt gefahren, auf der Suche nach Sheldon. Sie durchkämmten die Viertel in der Nähe des Zentrums und fuhren die wichtigsten Straßen ab. Karl Johans gate. Kristian IV s gate. Wergelandsveien beim neuen Literaturhaus. Den Hegdehaugsveien hinauf, dann auf den Bogstadveien und durch Majorstuen. Wieder zurück zum Frogner Park, durch Frogner und über Vika bis runter zum Hafen. Dann verlegten sie sich auf spezifische Orte. Keine Spur von Sheldon in der Synagoge. Keine Spur von Sheldon in der Oben-ohne-Bar, die den ganzen Tag geöffnet hatte. Keine Spur von Sheldon in den Buchläden.
    Lars hatte vorgeschlagen, in der Innenstadt zu übernachten. Irgendwo, wo’s schön war. Teuer. Vielleicht im Grand Hotel?
    Doch das Grand Hotel hatte keine Zimmer mehr frei gehabt, und da zogen sie weiter ins nahegelegene Continental.
    Lars schlief tief und fest. Er war erschöpft.
    Rhea starrte an die Decke, tausend Bilder in ihrem Kopf.
    Jetzt ist es Morgen geworden, und sie sitzen im Hotelrestaurant. Das Frühstück im Continental ist gut, aber Rhea hat keinen Hunger. Sie taucht einen Finger in den heißen Tee und legt ihn auf den Rand des Wasserglases. Mit der einen Hand hält sie es von unten, mit der anderen fährt sie den Glasrand entlang, bis ein dunkler Ton anhebt, wie der Klagelaut eines verirrten Babywals.
    «Wenn ich das machen würde, bekäme ich Ärger!», sagt Lars.
    «Tut mir leid.»
    «Wie hast du geschlafen?»
    «Ich wäre lieber zu Hause.»
    «Nein, das wärst du nicht.»
    «Wie sollen wir jemals zurück? Wo wir wissen, dass eine Frau in unserer Wohnung ermordet wurde. Wie lange können wir im Hotel bleiben?»
    «Es gibt Leute, die haben schlimmere Probleme.»
    «Das stimmt. Und es wäre ungehörig, das zu thematisieren, wenn sie jetzt hier wären. Aber das sind sie nicht, also lass uns reden.»
    Lars lächelt, und zum ersten Mal seit dem Einchecken lächelt Rhea auch.
    «Manchmal hörst du dich an wie dein Großvater. Vor allem wenn er gar nicht da ist.»
    «Er hat mich großgezogen.»
    «Machst du dir Sorgen?»
    «Ich bin zu geschockt, um mir Sorgen zu machen.»
    «Wir müssen nicht im Hotel bleiben. Wir können ins Sommerhaus fahren. Ich kann mir ein paar Tage freinehmen.»
    «Ich hab nichts außer einer Zahnbürste dabei.»
    «Ein paar Sachen haben wir ja dort. Wir können uns besorgen, was wir brauchen, bevor wir losfahren.»
    «Dürfen wir denn wegfahren?»
    «Ich rufe Sigrid Ødegård an und sage ihr, wo wir zu finden sind. Es sei denn, sie bezahlen uns die Hotelrechnung.»
    «Es steht heute in der Zeitung, weißt du. Ich habe ein Foto von unserem Haus auf der Titelseite gesehen.»
    Lars trinkt schwarzen Kaffee und isst Toast und ein Ei. Er trägt ein weißes, kurzärmeliges Hemd, das über seine schicken Jeans hängt, und Lederschuhe.
    «Wie kannst du nur was essen?», fragt sie.
    «Es ist Frühstückszeit.»
    «Geht dir all das nicht irgendwie nahe? Reißt es dich nicht aus allem heraus?»
    Lars setzt die Kaffeetasse ab und trommelt ein paarmal auf den Tisch. «Ich versuche, nicht daran zu denken. Ich versuche nur daran zu denken, was jetzt zu tun ist.»
    «Wie bei einem Videospiel.»
    «Das ist weder fair noch nett.»
    «Bei dir klingt es wie eine Wahlmöglichkeit. Geht dir das nicht unter die Haut? Ich bin vollkommen fertig. Mein Großvater trägt diese ganzen feindseligen Bilder

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