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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Folterknechte. Die Familien dieser Leute hatten Wasser aus Feldflaschen getrunken, und ihre Frauen brachten ihnen mittags kaltes Bier, um die Hitze zu lindern. Diese Mörder. Diese Parasiten. Die so taten, als würden auch sie menschliche Gefühle kennen. Doch sie waren leer. Seelenlos. Ohne einen Glauben oder ein Gewissen.
    Enver ließ den verwundeten Jungen liegen und begann zu rennen, hinein ins Bauernhaus. Der Wasserhahn war noch aufgedreht. Draußen hörte er das Poff-poff-poff kleinkalibriger Gewehre und ein paar gedämpfte Schreie. Aber hier drinnen war es unglaublich ruhig.
    Sie verstecken sich.
    Selbst ein leeres Haus macht ein Geräusch. Man kann es atmen hören. Aber dieses hier hielt den Atem an.
    Er legte den Rechen hin und nahm ein breites Messer von der Anrichte. Er versuchte, seinen Herzschlag zu kontrollieren.
    «Kommt raus. Stellt euch eurem Schicksal «, rief er.
    Er ging ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, ein Film aus dem Westen, auf Serbisch synchronisiert. Ein schwarzer Amerikaner mit einem Gewehr rannte eine Straße entlang, er verfolgte einen Dieb. Die Stadt war New York. Der Dieb hielt eine grellrote Handtasche an sich gepresst und sprintete zwischen einer Reihe Autos hindurch.
    «Kommt raus!», brüllte Enver. Und vielleicht war seine Stimme tatsächlich furchterregend, denn aus dem Schrank drang ein erstickter Schrei.
    Wenn da ein Gewehr ist und mich eine Kugel töten sollte, nun gut. Zumindest bin ich dann gestorben, als ich meine Toten ehrte.
    In Erwartung seines letzten Atemzugs öffnete er die Schranktür und blickte ins Dunkel.
    Draußen ging das Töten gnadenlos weiter. Seine Leute schlossen ihren eisernen Zirkel um den Hof, wie andere es bei seinem eigenen Dorf getan hatten. Heckenschützen waren an drei verschiedenen Ecken postiert und stellten sicher, dass niemand aus dem immer kleiner werdenden Radius entkam.
    Es dauerte, bis seine Augen sich an das matte Grau und die vereinzelten goldenen Tupfer im Schrank gewöhnten. Doch als sie es dann taten, war es, als hätte Gott selbst sie ihm dort hingelegt.
    Eine Frau Anfang zwanzig mit einem geblümten Rock und ohne Schuhe. Und neben ihr, an den Hals ihrer Schwester geschmiegt, ein weiches kleines Mädchen. Vielleicht zwölf Jahre alt.
    Es war eindeutig ein Geschenk. Eine Gelegenheit zur Rache, aber auch zur Demonstration seiner moralischen Überlegenheit, all dies in ein und derselben schlichten Geste. In dieser Gabe lag etwas ungemein Reines, seine kosmische Ausgewogenheit brachte ihn beinahe zum Weinen.
    Er wandte sich an die Ältere.
    «Raus da! Runter auf alle viere, und mach dich für mich fertig. Sonst schlitze ich ihr die Kehle auf und nehm dich dann trotzdem.»
    Er erinnert sich an das Gefühl, wie er ihre Hüften mit den Händen hielt, das Auf und Ab des geblümten Rocks auf ihrem Rücken, die Geräusche der Furcht, des Schmerzes und der Lust. Und als der Augenblick kam, sah er zum Himmel und schrie – wobei er nicht ganz sicher war, ob das ein Sakrileg bedeutete –, Gott sei wahrhaftig groß.
    Es war vorbei. Und doch gehen diese Augenblicke nicht einfach zu Ende. Sie verstreichen nicht unbemerkt und werden abgetrieben ins Hinterland des Gedächtnisses, wo sie – wie so vieles – von der Gegenwart und Versprechungen einer erträumten Zukunft ausgelöscht werden. Manchmal überleben sie. Und wachsen. Und die Vergangenheit reift, bis sie sich der Welt bemächtigt und eine neue Wirklichkeit hervorbringt, die uns beherrscht und bezwingt, uns dazu nötigt, uns mit uns selbst und allem, was wir getan haben, auseinanderzusetzen. Als Enver nämlich erfuhr, dass das Mädchen, Senka, schwanger geworden und in die nordischen Länder geflohen war, um sich dort aus Scham zu verstecken, war er unvorbereitet auf die Gefühle, die ihn überkamen, und auf das helle Licht, das plötzlich auf alles herabschien, ohne Schatten zu werfen, in denen man sich vor dieser neuen, von ihm selbst erschaffenen Welt hätte verstecken können.
    Nun war Enver Vater.

    Er öffnet die Augen und stellt fest, dass er eingedöst ist wie ein alter Mann. Erneut sucht er vergeblich nach einer Zigarette, die er sich zwischen die Finger oder in den Mundwinkel klemmen kann, dort, wo sie hingehört. Er wischt sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch ab, von dem Fetzchen an seiner Schläfe und der Sonnenbrille hängen bleiben.
    Die beiden im Hotel unterschreiben irgendetwas und sind im Begriff zu gehen. Verwirrt schüttelt Enver den Kopf. In dem Haus, in dem Senka

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