Ein seltsamer Ort zum Sterben
hört sie gedämpft durch die Karbonfasern seines Helms.
«Er ist nicht hier.»
Sie können es nicht wissen, aber es muss so sein. Er hält auf der linken Seite des Hauses neben einigen hohen Gräsern und dem Wassersammelbecken an und schaltet den Motor aus.
Das Gebläse schnurrt und kommt dann zum Stillstand.
Lars hat den Helm abgesetzt, geht auf die Eingangstür zu und drückt probehalber die Klinke herunter. Es ist abgeschlossen. Er presst sein Gesicht an die Scheibe und blickt in die rustikale Stube und die aufgeräumte Küche. Alles ist an seinem Platz. Die Kaffeemühle steht dort, wo er sie abgestellt hat. Die Propangasflasche ist noch immer nicht mit dem Kochfeld verbunden. Das Schneidebrett ist unbenutzt. Die vier Stühle um den kleinen Holztisch sind alle unter die Platte geschoben, im Wartestand. Selbst das Transistorradio mit der Kurbel steht oben auf dem Schrank.
Auf dem Weg zurück zum Motorrad sieht er, dass der Wasserstand im Sammelbecken niedrig ist. Es hat seit einiger Zeit nicht mehr geregnet. Das Grün des Grases um die Stallungen ist in der Sonnenglut zu Senfgelb verblichen. Lars geht ums Haus herum, vorbei an den Äxten, Hacken und Rechen, legt die Hand wieder auf die Scheibe und schaut hinein. Noch immer nichts: Bücher und Zeitschriften, Puzzles und Brettspiele, Öllampen und Decken, ein Armvoll trockenes Holz zum Anheizen. Die blau-weißen Teller und Tassen auf dem Bord an der Nordwand und die Kissen auf der Fensterbank – alles unberührt.
Nur wenig hat sich im Lauf des letzten Jahrhunderts in dem Holzhaus verändert, abgesehen von dem Reservegenerator und einigen Geräten, die zur Kommunikation dienen. Genau so mögen sein Vater und er diese Hütte. Während Rhea, ganz auf New York geeicht, die Gemütlichkeit geradezu kitschig fand, hat sie inzwischen die Stille hier lieben und die Geräusche verstehen gelernt. Mittlerweile sieht sie die Hütte nicht mehr nur als ein sentimentales Relikt, sondern als Zufluchtsort in einem immer aufdringlicher werdenden Universum.
Sie könnten die Nacht hier verbringen. Es ist bereits nach vier, und die Sonne steht hoch am Himmel. Möglicherweise ist Sheldon unterwegs hierher. Das würde sogar einen Sinn ergeben. Von Oslo aus kann man mit dem Zug und dem Bus nach Glåmlia fahren; findig wie er war, würde er vermutlich dort, wo die Straße endet und der Feldweg beginnt, per Anhalter weiterzufahren versuchen. Er kennt die Adresse nicht, aber er weiß, dass es das rote Haus am Ende der Stallungen ist. Es gibt nur das eine. Und jeder weiß, wem es gehört. Hierherzugelangen wäre kein Problem.
Es sei denn, sie hat recht. Es sei denn, er verliert die Orientierung und landet in Trondheim oder sonst wo. Oder wird von der Polizei aufgegriffen. Oder es ist ihm bereits etwas zugestoßen.
Lars kommt wieder ums Haus herum und sieht, dass Rhea etliche Meter vom Motorrad entfernt steht und über die Wiesen in den Wald starrt. Sie hat noch immer ihre Montur an und den Helm unter den Arm geklemmt. Das schwarze Haar hängt lang herab, und sie verharrt reglos wie eine Statue.
Als Lars hinter sie tritt, sieht er, wie Rhea stumm die Hand von ihrem Bein nimmt und sie spreizt, um ihn zum Schweigen zu ermahnen.
Dann hebt sie just diese Hand, deutet auf den Wald und dreht sich um. Ihre Stimme ist ganz leise.
«Ich glaube, da ist jemand.»
8. Kapitel
«Erst einmal schauen wir zu», sagt Sheldon ruhig. «Wir beobachten, was sie so tun. Wie sie sich bewegen. Was sie anhaben. Wir imitieren ihr Verhalten, damit wir uns anpassen und zu einem von ihnen werden können. Auf die Art verschmelzen wir mit ihrer Kultur und werden zu Einheimischen. Erst dann», sagt er zu Paul und setzt das Fernglas an die Augen, «machen wir den ersten Schritt.»
Sheldon und Paul hocken an der Ecke der Akershus-Festung am Fjord neben einer kopfsteingepflasterten Straße im Gras und schauen zu, wie einige außergewöhnlich fette Leute aus einem
Carnival
-Kreuzfahrtschiff strömen. Sie quellen über die Gangway wie Tran aus einem verwundeten Weißwal, werden in die Straße unterhalb der Festung geschwemmt und versickern dann am Rathaus und der Aker Brygge in der Stadt.
«Schau mal, dort. Bei dem großen Segelschiff, der Christian Radich. Sieh sie dir an. Diese kleinen Boote. Vielleicht so ein Dreieinhalbmeterboot mit Außenbordmotor. Sieht aus, als wäre das da jahrelang nicht mehr bewegt worden.»
Sheldon setzt das Fernglas ab und blättert in seinem Lonely Planet, der sich als unglaublich
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