Ein seltsamer Ort zum Sterben
neugeprägten Münzen und Spielzeugtrommeln. Es war zwei Jahre nach der Beinahe-Amtsenthebung eines Präsidenten, kurz nach dem Scheitern eines fünfundzwanzigjährigen Kriegs, inmitten von Auseinandersetzungen um die Bürgerrechte, angesichts der Konfrontation mit einer erstarkten Sowjetunion, einer im Schwinden begriffenen Wirtschaft, einer Ölkrise, einer orientierungslosen intellektuellen Klasse und eines Films über einen menschenfressenden Riesenhai. Amerika feierte sein Bestehen, während dieses kleine Mädchen an der Schwelle zu einem neuen Leben stand, auf einen neuen Kurs gebracht wurde und für immer im Schatten der Toten und Verschwundenen leben sollte.
Im Schein des Feuerwerks und unter einer Kampfjetformation wurde Rhea, die schon längst hätte im Bett sein sollen, auf dem Parkplatz einer
Sears
-Filiale von Mitarbeitern des Sozialamts ihren Großeltern übergeben – Daumen im Mund, Häschen im Schlepptau. Sie war schon zwei Tage allein gewesen, als die Nachbarn feststellten, dass das heulende Kind von niemandem getröstet wurde, und zum Telefon griffen.
Mabel packte sie auf den Rücksitz des geborgten Chevy-Kombis und ließ mit einem Klicken die Schnalle des breiten Gurts einrasten. Rhea blickte zu den Explosionen am Himmel hinauf, zu den erst grünen, dann roten, dann orangen Wolken.
Doch daran konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Mabel hatte es ihr erzählt. Genau wie sie ihr von Sheldons Aussetzern und seiner Zeit als Scharfschütze in Korea erzählt hatte.
«Ich erinnere mich an unser Gespräch. Wir brachten dich nach Hause, steckten dich in ein paar von Sauls alten Babysachen, weil das alles war, was wir hatten, und dein Großvater sagte: ‹So. Wir haben das Erste umgebracht, aber Gott gibt uns jetzt eine zweite Chance, alles richtig zu machen. Ich frage mich, ob wir wohl einen Preis bekommen, wenn dieses hier es bis zum Erwachsenenalter schafft.› Wie entsetzlich, so etwas zu sagen! Es auch nur zu denken. Nur ein Verrückter konnte einen derartigen Satz aussprechen. Kurze Zeit später begann er, sich Geschichten über den Krieg auszudenken. Demenz war die einzige Erklärung, die ich mir vorstellen konnte.»
Rhea sitzt hinten auf dem Motorrad und macht sich Gedanken. Sie fragt sich, ab welchem Moment Extravaganz in Exzentrik umschlägt. Wann Genie in Wahnsinn mündet. Wann Vernunft – wem eigentlich? – Platz macht. Irrsinn ist lediglich das Fehlen von Sinn. Es ist kein Modus an sich. Es ist alles, nur nicht sinnvoll. Und mehr wissen wir nicht darüber. Wir haben nicht einmal ein richtiges Wort dafür.
Sie weiß, was Sheldon sagen würde, und muss unwillkürlich lächeln. «Geistige Gesundheit? Möchtest du wirklich wissen, was das ist? Es ist die zähflüssige Ablenkungssuppe, in die wir eintauchen, um uns darüber hinwegzutäuschen, dass wir eines Tages den Löffel abgeben müssen. Jede Meinung, jeder Geschmack, jede Bestellung von süßem statt von scharfem Senf ist nur ein Mittel, dich davon abzuhalten, daran zu denken. Unsere Fähigkeit, uns abzulenken, bezeichnen sie als ‹geistige Gesundheit›. Und wenn du dann am Ende angelangt bist und nicht mehr weißt, ob du eigentlich lieber süßen oder scharfen Senf magst, heißt es, du wirst verrückt. Aber darum geht es gar nicht. Was da tatsächlich passiert, ist Folgendes. In diesen raren Augenblicken geistiger Klarheit, wenn dein Hirn zwischen süß und scharf hin- und herwandert wie bei einem Tennismatch im Schnellvorlauf, und du auf einmal merkst, dass du ganz konzentriert bist. Und da geschieht es: Du blickst direkt übers Netz auf all die anderen Leute, die versuchen, sich zwischen süßem und scharfem Senf zu entscheiden und … da! Auf dem Sitz direkt am Centrecourt: der Tod! Er war schon die ganze Zeit über da! Senf links, Senf rechts, überall Zerstreuung und der Tod direkt vor dir! Das haut dich um wie ein schwappender Kübel voll Zwiebelsuppe.»
Das Gelände wird wilder. Die Bäume haben immer dickere Stämme, während der nach Kiefern, Ahorn und Birken duftende Wind das blaue Wasser des Fjords vergessen lässt, der im Hintergrund allmählich verschwindet. Lars lenkt die Maschine auf eine Nebenstraße, um den großen Sattelschleppern und ängstlichen Fahrern aus der Stadt zu entgehen. Sie klettern über Hügelketten und lehnen sich in die gewundenen Täler. Die 1200 -Kubikzentimeter-Maschine beschleunigt und donnert mit der Wucht eines Kaltblüters davon.
Es ist etwas Schreckliches, das ihnen da passiert ist,
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