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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Mann, den sie «den Mönch» nannten.
    Alles begann mit einer Art offenherzigem Optimismus.
    Sheldon war im Auftrag von Reuters dabei. Seine frühen Fotobände hatten genau diesen In-die-Fresse-Realismus, den sie damals brauchten. Dass er selbst im Krieg gewesen war, verlieh ihm Glaubwürdigkeit bei den jüngeren Männern. Und das war unverzichtbar, wenn er ihren Beitrag zum Krieg hautnah dokumentieren wollte. Sheldon war in den Vierzigern und, obwohl er nicht übermäßig durchtrainiert war, nach wie vor schlank und wendig. Der Anruf kam spätabends, als er gerade Johnnie Carson guckte. Carson interviewte Dick Cavett, und Mabel und er kringelten sich vor Lachen wegen des großartigen Timings und der schlagfertigen Antworten der beiden.
    «Hier ist Reuters. Wir brauchen Sie hier. Sind Sie dabei?»
    «Meine Taschen sind seit der Tet-Offensive gepackt.»
    «Guter Mann. Abreise morgen früh?»
    «Morgen? Warum denn warten? Wie wär’s mit jetzt gleich?»
    Innerhalb einer Stunde wurde er nach Saigon gebracht, wo er in drei Minuten auf einem Elefanten zu Sauls Lager ritt, nepalesische Sherpas trugen sein Gepäck. Der diensthabende Colonel zeigte Sheldon den erhobenen Daumen, und Donny zwinkerte zurück. Es war gut, zurück im Glied zu sein, draußen bei den Männern. Wie jung sie jetzt waren! Nicht wie zu seiner Zeit. War er jemals selbst so jung gewesen? Natürlich nicht. In Korea kämpften Männer, aber nicht irgendwelche. Männer, die einen besseren Musikgeschmack hatten.
    Alle Männer stimmten ein «Hoo-ah!» an, als der alte Marine die Kaserne betrat. Ungeachtet ihres Dienstgrads salutierten ausnahmslos alle, und er erwiderte ihre Ehrbezeugung. Natürlich nur dieses eine Mal. Respekt für die alte Garde. Sie wussten, er war einer von ihnen und nicht irgend so ein Volltrottel von der
Stars and Stripes
, der vorbeischaute, um ein paar Schnappschüsse zu schießen, damit sie anschließend ein bisschen Propagandasoße drüberkippen konnten. Und er war auch kein Hippie, der davon träumte, Jane Fonda den Arsch abzuknutschen. Nein, nein: Dies hier war ein richtiger Kerl, der ein paar Fotos vom Leben auf dem Fluss schießen würde. Wo die Insekten groß genug waren, um kleine vietnamesische Kinder im Flug zu rauben, die Luft noch dicker war als die Anspannung der Männer und die einzige Regel darin bestand, dass man die Toten nicht essen durfte.
    Donny schwang seinen Seesack auf das obere Stockbett und hievte sich rauf. Er brauchte eine ordentliche Mütze Schlaf, denn morgen würde er mit seinem Sohn auf Patrouille gehen. Und er wollte seinem Sohn keine Schande machen.
    Vor dem Einschlummern flüsterte er: «Hey, Herman? Noch wach?»
    «Klar, Donny. Was’n los?»
    «Warum nennen alle den Captain ‹den Mönch›?»
    «Ach so. Das meinst du. Er will nicht hier sein.»
    «Wer will das schon.»
    «Nee, bei ihm is das anders. Er will
wirklich
nicht hier sein.»

    Der Oslofjord plätschert leise unter dem Rumpf des Motorboots, und die zwanzig PS schippern sie ruhig nach Südwesten. Sheldon sitzt auf der weißen Plastikbank nahe am Heck, die Hand auf der Pinne. Er hat die gestohlene Goretex-Jacke an und die Piloten-Sonnenbrille aufgesetzt, die er in der Tasche entdeckt hat. Paul sitzt auf der dritten Bank, vorne am Bug. Sheldon fragt sich, ob der Junge überhaupt schon mal in einem Boot gesessen hat.
    Im Lonely Planet gibt es eine Karte des Oslofjords, die Sheldon zum Navigieren benutzt. Anstatt den breiteren Kanal nach Norden zu nehmen, wo die dänischen Fähren und Kreuzschiffe fahren, die ihr Bötchen vermutlich versenken würden, wählt er die Route über den Sund zwischen den Inseln Hovedøya und Bleikøya und dann zwischen Lindøya und Gressholmen. Er kann nur hoffen, dass die Norweger keine übertrieben nervöse Küstenwache haben, die auf die Idee kommen könnte, irgendwelche Fragen zu stellen.
    Ihr Boot ist nicht das einzige, das diese Sommerroute nach Süden fährt. Da sind Ketschen, Kayaks und Katamarane; Jollen, Flachboote und sogar kleine Segelboote. Menschen winken Sheldon und Paul zu. Sheldon winkt zurück und genießt ihre wunderbar beruhigende Anonymität.
    Die meisten der kleineren Freizeitboote scheinen auf Nesoddtangen an der Spitze einer mächtigen Halbinsel zuzusteuern, um dann in Richtung Süden weiterzufahren. Langsam und gleichmäßig manövrieren sie so dicht wie möglich an der Küste. Sheldon folgt ihnen wie Treibholz. Er, das Boot und der Junge tuckern über das Wasser, fort von den Schrecknissen

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