Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
Vom Netzwerk:
des gestrigen Tags, hinein in eine blaugrüne Welt, die nichts davon weiß, wer sie sind oder woher sie kommen.
    Im sanften Wind, inmitten der glitzernden Wellen, geht Sheldons und Pauls Flucht vonstatten. Als die Anspannung der Stadt zusammen mit Oper und Rathaus verschwindet, kehrt die Stille wieder und mit ihr die unbeachteten Schreie des vorigen Morgens und all der Morgen davor.
    Aus dem Schrank heraus hatte Sheldon gehört, wie sie nach Luft schnappte. Er hatte gehört, wie sie erwürgt wurde, wie sie um sich schlug im Überlebenskampf. Er hatte den Hass gehört, der sich der Hände des Mörders bemächtigt hatte. Er stellte sich vor, wie ihre Augen sich weiteten, als ihr das Grauen bewusst wurde, als sie erkannte, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
    Als er Paul zusieht, wie er über den Bug gebeugt das Wasser berührt, das friedlich unter ihnen hinweggleitet, fragt er sich, was der Junge sich wohl vorgestellt hat, als die qualvollen Laute seiner Mutter im Todeskampf plötzlich verstummten. Er hofft, dass der Junge keine so blühende Phantasie hat wie er selbst, die unweigerlich zu jener Fahrt stromaufwärts in Vietnam zurückkehrt.
    «Das ist die Altersdemenz, Donny», sagte Mabel.
    Sie verstand das nicht. Sie hatte andere Anker, die sie im Gleichgewicht hielten. Aber er wollte es ihr trotzdem beweisen.
    «Was soll verrückt daran sein, wenn einen die Vergangenheit immer wieder einholt, so kurz vorm Ende? Ist das nicht einfach der letzte Akt der Vernunft, die sich verbissen bemüht, jenen Schritt ins Dunkel zu begreifen? Der letzte Versuch, die Zusammenhänge zu verstehen, bis dann zu guter Letzt alles entwirrt wird? Ist das so verrückt?»

    «Wir sollten drei bis vier Stunden für die Hin- und Rückfahrt brauchen«, sagte Herman zu seiner Mannschaft. «Eine F 4 ist ungefähr sieben Kilometer von hier abgeschossen worden, und das HQ glaubt, der Pilot habe noch abspringen können. Also lasst uns seinen kleinen faltigen Arsch retten, bevor er irgendwelchen Mist baut.»
    Der Mönch blieb wie üblich stumm, während die anderen Männer das Boot mit Vorräten beluden. Es regnete, und jeder hatte noch einen leichten Kater von dem dreitägigen Besäufnis zu Ehren Sauls, der sich der Navy für eine zweite Tour angeschlossen hatte und wieder mit an Bord war.
    Saul redete nicht viel mit seinem Vater. Nur Alltägliches. «Reich mir mal das Tau», oder: «Kann ich eine Zigarette haben?» Manchmal: «Und, wie läuft’s?» Sheldon machte das nichts aus. Er beobachtete das, was die Jungs taten, so sorgfältig wie möglich. Er wollte nicht im Weg stehen. Aber in seiner Vision – in seiner Erinnerung an jenen Ort, an dem er niemals gewesen ist – war er getrieben von dem Gedanken, bloß keinen Moment zu verpassen. Er spürte jenen Drang, den vielleicht sämtliche Juden teilten, alles zu dokumentieren. Alles zu erinnern. Auch den letzten Sonnenstrahl festzuhalten und dafür zu sorgen, dass andere erfuhren, dass er gesehen worden war. Das, was einst existierte und nun vergangen ist.
    Der Mönch war ein vorsichtiger Lotse. Sheldon fotografierte seine Hände auf dem Steuerrad und schoss ein Porträt vom Mönch, als die Sonne über seine Schulter schien, und alles, was man von seinem Gesicht und Körper sah, war eine dunkle Silhouette vor dem Fluss.
    Es lag etwas Düsteres in seinem Gebaren. Ein verborgener Schmerz. Als führe er irgendetwas im Schilde. Durch seine Linse erspürte Sheldon das alles.
    Dann fotografierte er Hermans schlanke, zartgliedrige Finger, die zum Reparieren einer Uhr hätten angeleitet werden können, wären sie alle auf einem anderen Planeten geboren worden.
    Er sah Trevor zu, der sein Gewehr so sorgfältig reinigte, als handele es sich um eine von einem Großvater geerbte Jagdflinte.
    Er fotografierte Ritchie und sein Lächeln und fragte sich, weshalb Menschen so oft ihrem eigenen Namen ähnelten.
    Er war glücklich auf dem Boot. Seit Sheldon 1975 begonnen hatte, sich auf diese Trips zu begeben, machte er sich selten Sorgen um Saul, obwohl er doch das Ende der Geschichte kannte. Er betrachtete seinen Sohn nicht mit dem traurigen Blick eines Vaters oder auch eines Kriegskameraden. Er fuhr einfach mit. Nahm alles in sich auf. War da. Badete in der Wärme der Kameradschaft und des Lebens.
    Es machte ihm Freude, seinem Sohn zuzusehen, der nun ein richtiger Mann war. Das hatte er doch gewollt, rief Sheldon sich selbst in Erinnerung. Das stimmte doch, oder? Sein Sohn sollte doch ein richtiger Mann werden,

Weitere Kostenlose Bücher