Ein seltsamer Ort zum Sterben
waren entscheidend. Der erste Schuss traf den Schiffsrumpf, setzte die deutschen Geschütze und Ölfässer in Brand, und der zweite setzte es schachmatt.
Während das Schiff lichterloh brannte, wurden die geheimen Torpedogeschütze gezündet, die das Schiff mit Mann und Maus aus nur fünfhundert Meter Entfernung zum Sinken brachten.
Es heißt, dank Oscarsborg habe die Regierung genügend Zeit gehabt, zu fliehen und sich im Widerstand gegen die nationalsozialistischen Invasoren zu organisieren, womit sich Norwegen offiziell auf die Seite der Alliierten schlug. Norwegen geriet bald unter die Herrschaft der Nazis, und ein Marionettenregime übernahm die Macht. Siebenhundertzweiundsiebzig norwegische Männer, Frauen und Kinder, die Juden waren, wurden von der norwegischen Polizei und den Deutschen umstellt und deportiert. Die meisten wurden nach Auschwitz verschleppt.
Vierunddreißig überlebten.
Nur wenige norwegische Polizisten wurden bestraft, einige blieben sogar im Amt, bis sie in Rente gingen. Der Holocaust selbst stand auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht auf den Lehrplänen der Unis. Es dauerte mehr als fünfzig Jahre, bis Norwegen ein Mahnmal errichtete, und ein paar weitere, bis das Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien gegründet wurde.
Für das, was da geschehen war, fanden sich, wie es Sheldon schien, offenbar nur unbeteiligte Zeugen, keine Täter. Und wenn Norwegen sich einmal nicht ganz korrekt verhalten hatte, so wurde dies sogleich mit dem Hinweis auf seine Opferrolle beiseitegewischt.
«Die Frage ist», sagt Sheldon laut und blickt in Richtung Süden auf die Festung Oscarsborg, «ob wir genügend Benzin haben, um dort anzukommen.»
Der Tag schleppt sich dahin, die Sonne scheint gar nicht zu wandern. Niemals ist Sheldon das Verstreichen der Zeit so langsam vorgekommen. Die gesamte Strecke von Oslo bis nördlich von Drøbak beträgt weniger als siebzehn Meilen, aber Zeit und Entfernung auf dem Wasser sind eine Sache der Phantasie.
Sie fahren noch einmal vier Stunden, bis dem kleinen Motor schließlich das Benzin ausgeht.
Weitere vierzig Minuten treiben sie noch dahin, bis die steigende Flut sie schließlich sanft in einer kleinen felsigen Bucht, die von Nadelgehölz umstanden ist, an Land trägt.
Sheldon überlegt, wo die Sichtlinie vorbeifahrender Boote verläuft, und bindet seins dann an einer Stelle fest, wo es am wenigsten auffällt.
Wäre es aus Holz, er hätte es versenkt.
Hätte er die Kraft gehabt, er hätte es ganz ans Ufer gezogen und versteckt.
Wäre er jünger gewesen, hätte er dem Angreifer ein Messer ins Herz gerammt und die Mutter des kleinen Jungen gerettet.
Aber die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind.
Sobald sie sicher an Land gegangen sind und alles aus dem Boot geräumt haben, wird Sheldon wieder munter. «Sagst du denn nie etwas?», fragt er Paul. «Du kannst mich sogar schlagen, wenn dir danach ist. Das hätte ich nämlich verdient. Bestimmt. Ich hätte auf der Stelle die Polizei rufen sollen, als ich die Auseinandersetzung in der Wohnung über uns gehört habe. Aber ich dachte nicht einmal daran. Fiel mir einfach nicht ein. Ich stand zu sehr über den Dingen. Ich meinte, ich wüsste, was da vor sich ging und dass deine Mutter schon irgendwann die Treppen runtergerannt kommen und nach draußen stürzen würde, da hätten sich dann andere Leute um sie kümmern können. Ich habe die Tür auch nicht ihretwegen aufgemacht. Ich habe sie für mich aufgemacht. Aus Trotz. Um aller Welt zu beweisen, dass man das eben so macht. Zweiundachtzig Jahre alt, und noch immer bilde ich mir ein, dass ich ein Publikum habe bei dem, was ich tue. Ist das nicht unglaublich? Ich spiele für ein Publikum, das schon vor fünfzig Jahren gestorben ist. Ich hätte die Polizei rufen sollen, und mit etwas Glück wäre sie rechtzeitig da gewesen.»
Sheldon wirkt gebückt und erschöpft von der Bootsfahrt. Sein Rücken ist gekrümmt. Der Junge und er sind nun beinahe gleich groß, und Sheldon versucht, ihm in die Augen zu blicken.
«Ist es ein Zufall», fragt Sheldon, «dass wir, je älter wir werden, immer mehr wie ein Fragezeichen aussehen? Was ich sagen will, ist … es tut mir leid. Das Beste, was ich gebe, scheint niemals gut genug zu sein. Ich hatte ein paar ordentliche Momente. Allerdings nicht so übermäßig viele, wenn man bedenkt, wie viele Chancen ich hatte. Ich habe sogar Sauls Geburt verpasst.
Ich möchte dich noch nicht abgeben, verstehst du das? Was, wenn der Typ dein
Weitere Kostenlose Bücher