Ein seltsamer Ort zum Sterben
Anhalter fahren, aber ich halte das für alles andere als unauffällig, und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Polizeistreife vorbeifährt und uns findet, ist höher, als mir lieb ist. Wir können immer noch kein Auto mieten. Ich nehme mal an, wir könnten uns eins ausborgen, aber lass uns das nur als letzte Möglichkeit in Betracht ziehen. Was ich sagen will, ist … wir haben da ’ne ganz schöne Nuss zu knacken.»
Als das Abendessen serviert ist, beobachtet Sheldon, wie Paul die Pasta in einer langen, ununterbrochenen, fließenden Bewegung verschlingt.
Am Ende dieses Abenteuers sind beide mit Tomatensoße bekleckert. Der Junge lächelt nicht. Dafür hat Sheldon das Gefühl, als wären Körper und Geist des Jungen zum ersten Mal seit dem Mord an seiner Mutter an ein und demselben Ort.
«Schön. Und jetzt wollen wir dich mal von diesen Klamotten befreien und ins Bett stecken.»
Sobald Paul gewaschen ist und seine Zähne geputzt sind – mit irgendeiner Zahnbürste aus dem Badezimmer –, suchen sie in dem Kinderschlafzimmer nach etwas zum Anziehen und finden ein langes weißes T-Shirt, das Paul als Nachthemd benutzen kann. Das Bett ist gemacht, eine dicke Wolldecke liegt obenauf, die Sheldon an die Hudson-Bay-Decken erinnert, die er als Kind im westlichen Massachusetts hatte, mit den breiten Streifen am Rand. Seine Mutter meinte, das zeige, wie viele Biberfelle dagegen eingetauscht wurden, aber er war sich da nicht so sicher. Dafür schienen es ihm zu viele zu sein.
Es durchzuckt ihn der Gedanke, dass er so viel Zeit damit verbracht hat, die Kindheit seines eigenen Sohnes zu erinnern, dass er seine eigene beinahe völlig vergessen hat. In seinem Alter kann es überwältigend und schmerzhaft sein, einem mit zu viel Nostalgie behafteten Gedanken nachzuhängen. Nicht dass er das gewollt hätte. In ihren letzten Jahren hatte Mabel aufgehört, Musik zu hören. Die Lieder aus ihrer Jugendzeit riefen ihr die Menschen und Empfindungen von damals in Erinnerung – Menschen, die sie nie mehr sehen würde, und Empfindungen, die sich nicht wiederholen ließen. Es war zu viel für sie. Manche Leute können mit diesen Dingen gut umgehen. Es gibt Leute unter uns, die nicht mehr zu gehen imstande sind, aber die Augen schließen und sich an eine Sommerwanderung über ein Feld erinnern können oder an das Gefühl von kühlem Gras unter den Füßen, und dann lächeln sie. Die nach wie vor den Mut besitzen, die Vergangenheit wohlwollend zu betrachten, sie wieder zum Leben zu erwecken und ihr eine Stimme in der Gegenwart zu verleihen. Mabel gehörte nicht zu diesen Leuten. Vielleicht fehlte ihr eben diese Art von Mut. Oder vielleicht war ihre Menschlichkeit so vollkommen, so allumfassend, dass sie von ihrer Fähigkeit, sich die entschwundene Liebe vorzustellen, erdrückt worden wäre. Diejenigen unter uns, die fähig sind, sich der verloren geglaubten Liebe zu stellen und sie nicht zu fürchten – die einem sterbenden Kind bis zum Ende Freude bereiten können, ohne sich aus Selbstschutz zurückzuziehen –, das sind unsere Helden. Nicht die Märtyrer. Es sind nie die Märtyrer.
Als der Junge im Bett liegt, drückt Sheldon die Nase ganz tief in die dicke Wolle und atmet so viel von der Vergangenheit ein, bis seine Lungen beinahe platzen.
Auf der Stelle schießen ihm Tränen in die Augen, und er hält inne. Er reißt sich zusammen und geht ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Im Spiegel erblickt er einen Mann, der ihm nicht sonderlich bekannt vorkommt. Und dafür ist er dankbar.
Auf dem Polizeirevier in Oslo lockert Sigrid den Krawattenknoten gerade so weit, dass das Blut wieder zu zirkulieren beginnt, aber nicht so weit, dass irgendwer meinen könnte, der Fall setze ihr zu. Ihr Team arbeitet hart, es ist spät, und alle sind müde. In den letzten zwölf Stunden hat sie mehr Befehle und Anweisungen erteilt als in den letzten zwölf Wochen, und obwohl sie keineswegs erschöpft ist, käme ihr eine kleine Pause doch sehr gelegen.
Aus Solidarität und Pragmatismus hat sie in dem großen zentralen Raum Platz genommen, ihr Büro ist jetzt leer. Darin befindet sich nichts, was einen Nutzen für sie gehabt hätte, abgesehen vielleicht von ihrem Computer, aber sie kann sich genauso gut bei Lena einloggen, die sie zur Asylaufnahmebehörde geschickt hat, um aktenkundig gewordene Kumpels dieses ehemaligen UÇK -Typen zu befragen, den die Einwanderungsbehörde in ihrer unergründlichen, wohlwollenden Weisheit ins Land gelassen
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