Ein seltsamer Ort zum Sterben
Vater ist? Er war in letzter Zeit ja ständig in eurer Wohnung, den Geräuschen nach zu schließen. Wahrscheinlich war er sehr oft bei euch. Ein Junge wie du wird ja nicht einfach von selbst stumm. Der hat dich bestimmt schon seit langem bedroht und eingeschüchtert. Wenn ich dich abgebe, kommt er am Ende an und ruft: ‹Mein Sohn, Sie haben meinen Sohn gefunden!› Ich kann dich doch nicht in die Klauen des Mörders deiner Mutter geben! Was für ein Freund würde denn so etwas tun?»
Paul hört ihm zu. Sheldon versteht nicht, weshalb.
«Hast du Hunger? Du bist bestimmt ganz ausgehungert. Komm, wir gehen uns mal ’n bisschen was zu essen borgen.»
Paul ergreift zwar nicht Sheldons Hand, folgt ihm aber. Sie gehen langsam, denn nach den langen Stunden im Boot tut Sheldon das Kreuz weh. Bei jedem Schritt schießt ein stechender Schmerz in sein linkes Bein, und er rückt den Tornister aus dem Boot gerade, den er über der Schulter trägt.
«Lassen wir es mal gut sein für heute. Wir gehen jetzt dorthin.»
Sheldon streckt die Rechte aus und deutet auf ein hübsches blaues Haus in Ufernähe. Sie gehen nach Süden, der Fjord liegt rechts von ihnen. Am Ufer gibt es einen privaten Anleger aus Metall für ein Boot, das nicht da ist.
Sheldon führt den Jungen an der Vorderseite des Hauses entlang und hält Ausschau nach Anzeichen für Leben. Es stehen keine Autos in der Zufahrt und nur wenige auf der Straße selbst. Das Haus wirkt verlassen.
Gemeinsam gehen sie ein weiteres Mal um das Haus herum, und Sheldon zeigt Paul, wie man die Hände zu einem Hohlraum formt und das Gesicht an die Scheibe presst. Paul tut es zwar nicht, aber Sheldon hat das Gefühl, dem Jungen dennoch etwas Brauchbares beigebracht zu haben.
Kein Licht brennt. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Alles ist aufgeräumt und sauber.
Sheldon geht zur Hintertür, an die sich ein kleiner Garten anschließt, von dem aus ein Pfad hinunter zum Pier führt. Er presst sein Gesicht noch einmal gegen die Scheibe, sieht immer noch nichts Interessantes und beschließt, aufs Ganze zu gehen.
«So, damit wären wir wieder bei Lektion 1 », sagt er zu Paul.
Er setzt den Tornister auf der hölzernen Veranda vor der Küche ab, zieht einen Hammer heraus und zertrümmert wortlos das Glasfeld neben dem Türgriff.
Er hält einen Augenblick inne, lauscht konzentriert und sagt dann: «Kein Alarm. Das ist hilfreich. Pass auf, wo du hintrittst. Überall Glas.»
In einem Eames-inspirierten Wohnraum mit wunderbaren schwedischen und amerikanischen Möbeln aus den Fünfzigern findet Sheldon einen Zeitschriftenständer mit Landkarten und den örtlichen Bus- und Zugfahrplänen, die er zusammenrafft und in die Küche schleppt, damit er sie anschauen kann, während das Wasser für Nudeln zu kochen beginnt.
Als er eine gute Übersichtskarte gefunden hat, faltet er sie vorsichtig auseinander, breitet sie auf dem Tisch aus und deutet mit der Spitze eines hölzernen Kochlöffels auf die Glomma, zeichnet die blaue mäandernde Linie ein paar Zentimeter in Richtung Kongsvinger nach.
«Da wollen wir hin. Ich war zwar noch nie dort, aber ich habe ein Foto auf der Kühlschranktür in Oslo gesehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es finden werden.» Sheldon fährt mit dem Finger über die Karte. «Ich wusste gar nicht, dass dieses Land so viele Seen besitzt. Überall gibt es hier einen See!»
Als das Wasser kocht, gießt Sheldon ein wenig Wasser in ein IKEA -Glas und macht sich einen löslichen Kaffee. Er öffnet die Tür des Küchenschranks links von der Spüle, findet eine Packung Fusilli und lässt den Inhalt in den Topf prasseln. Er hat keine Ahnung, wie viel ein hungriges Kind essen kann, und ist neugierig, wie viel das wohl sein wird. Er findet eine Dose Tomaten, Salz und Pfeffer, etwas Knoblauchpulver und kombiniert alles mit feinem Sachverstand, wie ihn nur ein Großvater aufbringt, zu einer Pampe, wie sie nur ein Kind zu essen imstande ist.
Er gibt drei gehäufte Teelöffel Zucker in seinen Kaffee und kommt dann zurück zum Tisch, an dem Paul auf die Landkarten starrt.
«Da wollen wir hin», sagt Sheldon auf eine Stelle deutend, «aber die Frage ist, wie machen wir das? Ich werde zwar aus diesen Fahrplänen hier nicht schlau, aber immerhin wird mir klar, dass fast alle Busse von Drøbak nach Kongsvinger über Oslo fahren. Und ich möchte nicht nach Oslo fahren. Ich möchte Oslo umgehen. Oslo, da komme ich ja gerade her. Heißt also, wir sitzen wieder fest. Wir könnten per
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