Ein sinnlicher Schuft
Jungen danach zu seiner Schwester schicken, doch der schaute ihn bittend an. »Ich möchte Hector lenken.« Er wandte den Blick ab und fügte hinzu: »Wenn Sie erlauben, Chef.«
Colin lächelte. »In Ordnung. Du kannst vorn neben mir sitzen und schaust mir zu. Wenn du heute Abend alle Teile des Geschirrs richtig benennen kannst, lass ich dich morgen lenken.«
Da lächelte Evan, diesmal wie ein Kind, das sich freute, und nicht auf diese Ich-hab-das-Schlimmste-schon-erlebt-Art. Seine grauen Augen leuchteten auf, und sein mageres Gesicht verlor den müden Ausdruck. »Das wär toll.«
Colin schaute in die Kutsche und bemerkte, dass Prudence Filby ihn durch das kleine Fenster beobachtete. Sie lächelte ebenfalls, wandte aber sogleich den Blick verlegen ab. Wieder einmal wurde Colin sich der erstaunlichen Ähnlichkeit zwischen ihr und Evan bewusst. Und darüber, wie selten die Geschwister wirklich lächelten.
Nach wie vor bemühten er und Pru sich beide krampfhaft, nicht miteinander reden zu müssen, und beschränkten sich auf das Notwendigste. Was sollte er auch sagen? Er wagte nicht, sie schon wieder um Verzeihung zu bitten wie nach dem Kuss auf der Bühne. Dafür war er viel zu weit gegangen, und außerdem schien es ihm zu gefährlich, denn immer wenn er sich bei ihr entschuldigte, endete es mit leidenschaftlichen Küssen, Umarmungen und noch mehr.
Pru lehnte sich in den ein wenig verschlissenen, aber bequemen Polstern zurück und unterhielt sich mit Melody. »Ist die Kutsche nicht schön?«
Melody schaute sie skeptisch an. »Nicht so wie der Wagen von Pomme.«
»Findest du?«
»Pomme hat gesagt, es ist gesund, an der frischen Luft zu sitzen, und die Leute würden in einer geschlossenen Kutsche schlechte Laune kriegen. Pomme hat gesagt…«
Sie seufzte. Wenn Melody nicht bald aufhörte, würde sie schlechte Laune bekommen und bis heute Abend den Namen Pomme nicht mehr hören können.
Als die Federung des Wagens ein wenig nachgab, merkte sie, dass Colin und Evan auf den Kutschbock gestiegen waren und es folglich bald losging. Evan war bestimmt außer sich vor Freude. Er mochte Pferde schon als kleiner Junge, und der imposante Hector hatte es ihm besonders angetan. Eines Tages würde er sich ein Dutzend Pferde kaufen können, wenn er das wollte. Doch bis es so weit war, mussten sie noch sechs weitere Jahre überstehen. Dann wäre Evan achtzehn und könnte ganz offiziell sein Erbe antreten.
Noch sechs Jahre.
Allein.
Als Melody wieder einmal musste, beschloss Colin, die erzwungene Pause gleich für ein Picknick zu nutzen. Pru war es nur recht, und bereitwillig schaffte sie den Korb mit dem Reiseproviant heran und packte großzügige Portionen von Schinken, Käse, Äpfeln und herzhaftem braunem Brot aus. Colin trank Bier aus einer Steingutflasche, während sie und die Kinder sich frisches, kühles Wasser aus einem in der Nähe vorbeifließenden Bach holten.
Wenn Pru sich nicht um die kleine Melody kümmerte oder Evan davon abzuhalten versuchte, Insekten in Colins Bier zu schmuggeln, genoss sie die Reise in vollen Zügen. Es war Jahre her, dass sie irgendetwas anderes als Stein und Straßenpflaster gesehen hatte. Der Frühlingstag war warm und sonnig, und am Himmel zeigten sich nur vereinzelte Schäfchenwolken.
Ein blau-goldener Tag, hätte ihre Mutter gesagt und darauf bestanden, dass die Familie aufs Land fuhr, um ein Picknick zu veranstalten. So eines wie dieses jetzt. Ihr Vater würde zwar ein wenig protestiert haben, weil sie ihn von seinen Geschäften abhielt, aber am Ende nachgegeben haben. Spätestens nach einem Blick in die empört funkelnden Augen seiner Frau. »Ein Tag wie dieser ist ein Geschenk, Atticus Filby, und ein Geschenk darf man niemals ausschlagen.«
Wie oft hatte sie diese Worte nicht gehört!
»Du bist das Geschenk«, pflegte ihr Vater daraufhin zu antworten, bevor er seine Frau packte und mit ihr zur Freude und Belustigung der Kinder durchs Haus tanzte.
»Früher haben wir auch solche Picknicks gemacht«, murmelte Pru Evan zu. »Erinnerst du dich?«
Doch sie konnte an seinem verständnislosen Blick sehen, dass er sich an nichts erinnerte. Sie lächelte und strich ihm über die Stirn, auf der sich vom angestrengten Nachdenken eine Falte gebildet hatte. »Das macht nichts, mein Lieber.« Sie verwuschelte ihm sein zu langes Haar. »Fängst du mir einen Schmetterling?«
Mehr brauchte Evan nicht als Aufforderung. Binnen Sekunden jagte er über die Wiese, die kleine Melody auf den Fersen,
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