Ein skandaloeser Kuss
Hinsicht war er das auch, denn ausgerechnet hier, in seinem Elternhaus, gab es niemanden, der ihn unterstützte oder verstand, was ihn antrieb. Lerneifer. Wissensdurst. Die Bereitschaft, alles zu riskieren für den wissenschaftlichen Fortschritt. Es mochte sein, dass auch sie nicht in vollem Umfang begriff, was ihn leitete, doch sie bewunderte seinen Einsatz und seine Hingabe.
Im warmen Schein der Lampe standen sie beieinander wie auf einer Insel aus Licht; so nahe, dass sie sich beinahe berührten und als gäbe es nur sie beide auf der ganzen weiten Welt.
Nur sie beide. Jeder für sich, aber nicht mehr allein.
Es gab nicht die geringste Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm. Sie war eine Diebin auf der Flucht und eine Lügnerin. Sie hatte ihn getäuscht, seine Güte und Großzügigkeit ausgenutzt, und sie konnte nur hoffen, dass er es niemals herausfand.
Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, irgendetwas, um den Bann zu brechen, in den das magische Licht und ihre Bewunderung und ihr Mitgefühl sie geschlagen hatten.
Er beugte sich zu ihr, wie um ihr aufmerksam zuzuhören.
Oder sie zu küssen.
„Mylord.“ Der Butler stand in der offenen Tür und machte eine knappe Verbeugung. „Das Dinner kann serviert werden.“
Als er Fallingbrooks Stimme vernahm, trat Bromwell eilig ein paar Schritte von Lady Eleanor fort.
Nicht auszudenken, wie tief er in ihrer Achtung sinken würde, wenn sie wüsste, welche Vorstellungen von ihr ihm im Kopf herumgeisterten! Um keinen Preis durfte sie je davon erfahren, und er musste sich endlich besser beherrschen, gleichgültig, wie schön und verführerisch sie war.
Sie brauchte Hilfe von ihm, keine unwillkommenen Aufmerksamkeiten.
„Darf ich bitten?“, fragte er und bot ihr höflich den Arm.
Sie hakte sich formvollendet bei ihm unter, dann begaben sie sich schweigend zu Tisch.
„Da seid ihr ja!“, rief der Earl aus, als sie den Speisesalon betraten. Das triumphierende Lächeln, das seine Worte begleitete, unkommentiert zu lassen fiel Bromwell schwer.
Andererseits – was hätte er sagen können, das Lady Eleanor nicht unerwünschte Hinweise auf die von seinem Vater so hartnäckig verfolgten Zukunftspläne für ihn geben würde?
Zu seiner Überraschung war auch seine Mutter anwesend. Sie sah so munter und gesund aus wie schon lange nicht mehr, und da sie jedes Mal regelrecht aufblühte, wenn sie unter Menschen war, bedauerte er, dass sie seinen Vorschlag, eine Gesellschafterin zu engagieren, stets mit der ihr eigenen Beharrlichkeit ablehnte. Sie brauche keine Gesellschafterin, wenn ihr Sohn sie öfter besuchen würde und länger bliebe, pflegte sie zu argumentieren.
Da sie keine Anstalten machte, sich von ihrem Platz zu erheben, brachte er Lady Eleanor zu ihr. „Mutter, dies ist Lady Eleanor Springford. Lady Eleanor, meine Mutter, Lady Granshire.“
„Angenehm“, murmelte die Countess, als Lady Eleanor den Arm ihres Sohnes losließ und einen Knicks machte.
Sein Vater bedeutete dem livrierten, mit weißer Perücke bekleideten Lakaien, den Stuhl zur Rechten seines angestammten Platzes zurechtzurücken, und wies mit der Hand darauf. „Mylady.“
Wieder legte Lady Eleanor eine bewunderungswürdige, formvollendete Anmut an den Tag. Sie schenkte ihrem Gastgeber ein freundliches Lächeln, folgte seiner Aufforderung und setzte sich.
Der Earl sprach das Tischgebet mit einem Pathos, als handele es sich um die Bergpredigt. Dann wurde das Dinner aufgetragen.
Wie gewöhnlich schmeckte das Essen im Hause seiner Eltern hervorragend, doch der Preis für so delikate Speisen wie Austern, Steinbutt mit Hummer, Lammkoteletts, Wildbret, Roastbeef, Gemüse, Salat und Sahnebaiser mit Schokoladensoße war, seinem Vater zuhören zu müssen. Und der Earl hatte zu allem und jedem eine von Unwissen und Vorurteilen geprägte Meinung.
Lady Eleanor aß mit der gewohnten Anmut und lauschte höflich, ohne ein Wort zu äußern – außer wenn der Earl sich direkt an sie wandte, was genau ein Mal vorkam, als er sie nach dem Zustand der Straßen in Italien befragte. Aber selbst in diesem Fall wartete er ihre Antwort nicht ab und fuhr stattdessen fort, sich über den verheerenden Zustand des englischen Straßennetzes auszubreiten sowie über die Sträflinge, die man, statt sie bei der Reparatur desselben einzusetzen, nach Australien verschiffte.
In Australien war Bromwell einmal Zeuge beim Entladen eines Sträflingsschiffs geworden, daher widersprach er nicht. „Es würde
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