Ein skandaloeser Kuss
Nell war niemand, die so leicht aufgab. „Arbeiten Sie schon lange in diesem Haushalt?“, erkundigte sie sich in der Hoffnung, den Schaden wiedergutzumachen, während Dena ihr energisch das Haar zu bürsten begann.
„Seit zwanzig Jahren, Mylady.“
„Dann kennen Sie Lord Bromwell von Kindesbeinen an.“
Die Zofe erwiderte nichts.
„War er ein unternehmungslustiger Knabe?“, fragte Nell unbeirrt weiter.
„Keine Ahnung, Mylady. Ich war nicht sein Kindermädchen.“
„Aber solche Dinge sprechen sich doch herum.“
„Es hat hin und wieder Ärger gegeben“, räumte Dena ein. „Dass er jedoch so gedankenlos ist und wer weiß wohin segelt und seine arme Mutter sich deshalb zu Tode ängstigt, nachdem sie nächtelang an seinem Bett gewacht hat, als er so oft krank war …“
Dena verstummte und presste die Lippen zusammen, als wolle sie verhindern, dass ihnen auch nur ein weiteres Wort entschlüpfte.
„Ich nehme an, Jungs machen einfach Dummheiten, wenn sie heranwachsen.“
Als die Zofe nicht antwortete, versuchte Nell es anders. „Sie müssen sehr stolz sein, für eine Familie zu arbeiten, die einen so berühmten Naturforscher zu ihren Mitgliedern zählt.“
Unheilvoll zog Dena die dunklen Brauen zusammen.
„Das Buch des Viscounts ist gut aufgenommen worden.“ Nell ließ nicht locker.
Denas Miene wurde wenn möglich noch missbilligender.
„Aber offenbar findet Lord Bromwell mit seinem Forschungsfeld wenig Anklang bei Ihnen.“
Das war das Stichwort. Dena begann zu reden, als habe Nells Bemerkung eine Schleuse in ihr geöffnet, und äußerte ihre Meinung, die sie lange zurückgehalten zu haben schien. „Ausgerechnet Spinnen! Schauderhafte Tiere! Ich möchte wissen, was der Allmächtige sich gedacht hat, als er sie erschuf. Und was den Viscount angeht – er war ein feiner Gentleman, aber dass er dann auf diese Reise ging und was er mit den Heiden gemacht hat, halb nackt deren unzüchtige Tänze mitgetanzt und ihr Zaubergebräu getrunken und bestimmt auch mit ihren Weibern … das reicht, um jede Christenfrau abzuschrecken.“
Was auch immer Dena davon halten mochte, Nell sah vor ihrem inneren Auge umgehend das Bild des beinahe nackten Lord Bromwell, der, nur vom flackernden Schein der Fackeln erhellt, in einem Zustand hemmungsloser Selbstvergessenheit unter Palmen tanzte. Und dann mit einer ebenso nackten Frau in den Büschen verschwand.
Einer Frau, die so aussah wie sie selbst.
Sie verdrängte die ebenso aufregende wie verstörende Vision und bedauerte mehr denn je, dass sie Lady Sturmpoles Exemplar von Das Spinnennetz nicht gelesen hatte. „Sie scheinen sein Buch gut zu kennen, Dena.“
„Mrs Fallingbrook nahm es auf sich, den Dienstboten daraus vorzulesen, bis ich sie bat, damit aufzuhören.“ Die Zofe kniff erbittert die Lippen zusammen. „Es verdarb mir den Appetit, hören zu müssen, dass ein englischer Gentleman, der Sohn unseres Brotherrn, ein solches Betragen an den Tag legt. Ich finde, er sollte sich schämen“, fuhr sie entrüstet fort. „Es brachte seine arme Mutter fast um, dass er fortging, obwohl sie ihn angefleht hatte zu bleiben. Sechs Wochen lang lag sie krank darnieder, nachdem er abgereist war, und wir mussten Angst haben, dass es ihr Tod sein würde, und was macht er? Benimmt sich, als wäre er selbst ein Heide!“
„Aber zumindest ist er wiedergekommen“, wandte Nell ein. „Und er hat ein erfolgreiches Buch geschrieben. Darüber wird seine Mutter sich doch gewiss freuen.“
„Freuen würde sie sich, wenn er sich niederlassen und heiraten würde, statt wieder loszusegeln und für wer weiß wie lange fortzubleiben.“
Es lag zweifellos nicht in Lord Bromwells Absicht, seiner Mutter mit seinen Expeditionsplänen Verdruss zu bereiten, dessen war Nell sich sicher. Der Eifer, mit dem er seine Forschungen betrieb, und seine Überzeugung, dass seine Arbeit notwendig war für den Fortschritt der Wissenschaft, verdeutlichten das.
Und schließlich war er nicht der einzige Mann auf der Welt, der weit fort segelte. Seeleute und Walfänger befanden sich ebenfalls lange auf See, und ihre Mütter, Schwestern und Ehefrauen mussten damit zurechtkommen, dass sie manchmal länger als ein Jahr von zu Hause abwesend waren.
Aber vielleicht hatten diese Frauen auch nur mehr Übung darin, ihre Ängste hinter einer Maske stoischer Akzeptanz zu verbergen.
Man konnte der Countess nicht vorwerfen, dass sie sich Sorgen machte, oder Dena, dass sie mit ihrer Herrin mitlitt. Nell
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