Ein skandaloeser Kuss
ungezähmte Wildheit sich unter der dünnen Hülle der Zivilisiertheit verbarg.
Lord Bromwell drehte sich um, und mit der widerspenstigen Locke, die ihm in die Stirn gefallen war, sah er unwiderstehlich jungenhaft aus.
Er lächelte ihr zu, machte indes keine Anstalten, näher zu kommen. Nell erwiderte das Lächeln und hätte ihm gern gesagt, wie sehr sie ihn bewunderte, zumal nachdem sie seine Eltern kennengelernt hatte. Sie hätte ihm auch gern gesagt, dass er umwerfend attraktiv war und dass sie es bedauerte, keine Dame von Stand und ihm gesellschaftlich ebenbürtig zu sein. Und dass sie sich wünschte, er würde sie noch einmal küssen und nie wieder aufhören.
Stattdessen nahm sie auf der Kante der Chaiselongue Platz und verschränkte sittsam die Hände im Schoß. „Ich bin untröstlich, dass ich noch nicht die Möglichkeit hatte, mir Ihr Buch zu besorgen. Was meinen Sie, könnte ich es mir aus der Bibliothek Ihres Vaters leihen und lesen, solange ich hier bin?“
Statt über ihre Anfrage erfreut zu sein, machte Lord Bromwell eine unbehagliche Miene. „Sicher, sofern wir eins auftreiben können. Aber vermutlich hat der Earl sämtliche Exemplare, die ich ihm geschenkt habe, weggegeben.“
Ein Mann, der stundenlang von seinem Haus und seinem Anwesen prahlte, würde kaum der Versuchung widerstehen können, sich das allseits gerühmte Werk seines Sohnes ins Regal zu stellen. „Eines dürfte er behalten haben. Wo ist die Bibliothek?“
„Kommen Sie.“ Lord Bromwell ging an ihr vorbei zur Tür. „Aber ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein.“
Genau wie er, wenn er recht hatte.
In der Hoffnung, dass er sich irrte, folgte sie ihm dennoch eifrig den kurzen Weg durch den marmorgefliesten Korridor.
Was, wenn es tatsächlich kein Exemplar gab? Was sollte sie tun? Lord Bromwell trösten? Seinen Vater verwünschen?
Den Gedanken an Trost schob sie beiseite, als sie die Bibliothek betraten, einen großzügig geschnittenen Raum mit schmalen langen Fenstern, die nach Süden hinausgingen, und dunklen Eichenregalen an den restlichen Wänden. Lord Bromwell nahm ein Schwefelholz aus der Schachtel auf dem Kaminsims, riss es an und zündete eine der Lampen an, die auf den Beistelltischen standen.
Auf einem davon lag ein Schachbrett mit spielbereit aufgestellten Figuren, wie Nell in dem nunmehr helleren Licht entdeckte. Das Gemälde über dem Kamin zeigte eine arkadische Landschaft, die von Menschen in der Kleidung des vergangenen Jahrhunderts bevölkert war. Büsten römischer Imperatoren und griechischer Denker blickten von den Regalen mit den ledergebundenen, unbenutzt wirkenden Büchern auf sie herunter.
Auf dem großen Pembroke-Tisch in der Mitte des Raumes lag ein einzelnes Buch, und wenn irgendeines der hier versammelten Werke diesen hervorgehobenen Platz verdiente …
Nell eilte zu dem Tisch, und erreichte ihn beinahe gleichzeitig mit Lord Bromwell. Mit angehaltenem Atem las sie den Titel: Das große Adelsverzeichnis Englands, Schottlands und Irlands.
Sie konnte Lord Bromwell nicht ansehen, wusste nicht, was sie sagen sollte. Es tut mir leid erschien ihr kaum angebracht.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Frage, wo jemand, der so eitel und selbstgefällig war wie der Earl, das Buch seines Sohnes aufbewahren würde.
„Vielleicht hier“, sagte sie halblaut und trat an die Regalwand.
„Lassen Sie uns nicht unsere Zeit verschwenden.“ Lord Bromwell klang auf eine stille Art resigniert. „Ich lasse Ihnen eins über Ihren Patenonkel zukommen, mit den besten Empfehlungen.“
Was bedeutete, dass sie das Buch nie erhalten und er herausfinden würde, dass sie ihn getäuscht hatte. Trotzdem bedankte sie sich. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
„Es macht keine Umstände, ich habe noch genügend Exemplare. Nicht dass ich sie jedermann schicke, den ich kennenlerne …“ Er verstummte verlegen.
Nell riskierte einen flüchtigen Blick in sein Gesicht. Er war tatsächlich errötet. „Sie sind ein bemerkenswerter Mann, Lord Bromwell.“
„Und Sie sind eine ziemlich bemerkenswerte Frau, Lady Eleanor, diese weite Reise auf sich zu nehmen, noch dazu ohne Begleitung“, antwortete er ohne sie anzusehen. „Dass eine junge Dame ein solches Wagnis eingeht, in dem Wissen elterlicher Missbilligung, ist mehr als erstaunlich.“
„Anscheinend mussten wir beide unsere Eltern enttäuschen, um frei zu sein.“
Nur dass ihre Eltern beide tot waren und sie völlig allein stand in der Welt.
Aber in gewisser
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