Ein skandaloeser Kuss
Nell sich fragte, ob sie Lady Jemisina zu Unrecht hasste. „Ja, Justinian, aber du musst mir versprechen, dass du nicht …“
„Himmel noch mal!“, donnerte sein Vater, „hörst du nie zu, wenn ich etwas sage? Du sollst unsere Gäste nicht mit Bitten um finanzielle Unterstützung deiner lächerlichen Expedition belästigen!“
Nell warf einen flüchtigen Blick zu Lord Bromwell, in der sicheren Erwartung, dass er erröten, wütend werden oder sogar den Raum verlassen würde, doch stattdessen hob er lediglich eine Braue und fragte: „Was macht dich so sicher, dass Lady Jemisinas Vater und ich nicht über eine viel persönlichere Angelegenheit zu sprechen haben?“
Seine Mutter presste die Hände zusammen, als sei ihr Herzenswunsch im Begriff, in Erfüllung zu gehen. „Wirklich?“
Obwohl ihre Vernunft ihr sagte, dass zwischen ihnen nie etwas sein konnte, fühlte Nell sich auf einmal enttäuscht und bestürzt. Doch dann fuhr Lord Bromwell an seine Mutter gewandt fort: „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Was ich meinem hochverehrten Vater damit sagen wollte, ist, dass er meine Gedanken nicht lesen und daher über meine Absichten nur Vermutungen anstellen kann.“
Er hielt inne, dann bedachte er Nell mit einem unergründlichen Blick. „Im Übrigen glaube ich, dass unser Gast ziemlich müde ist. Würden Sie sich gern zurückziehen, Lady Eleanor?“
„Ja, in der Tat, das würde ich gern“, erwiderte Nell erleichtert. Es war das Beste, wenn sie möglichst bald von den anderen fortkam, besonders von Lord Bromwell. Ehe sie noch den Fehler machte, sich in ihn zu verlieben.
Es war noch früh, als Nell am nächsten Morgen auf die Terrasse hinaustrat und von dort aus in den Garten schlenderte. Den Kaschmirschal, den Lady Granshire ihr gegeben hatte, fest um die Schultern gewickelt, hielt sie sich auf den gepflasterten Wegen, denn auf den Rasenflächen lag noch Tau.
Hecken, Büsche und Rasenränder waren allesamt präzise und sauber geschnitten, die Blumenbeete in tadellosem Regelmaß bepflanzt, die Rosensträucher fachmännisch gestutzt. Alles in dieser Anlage war klar umrissen und sorgfältig bis ins letzte Detail geplant.
Doch statt beeindruckt zu sein, wie der Earl es zweifellos beabsichtigte, bewirkten die strenge Geometrie und die Künstlichkeit des Gartens, dass Nell sich nach unberührter Natur, nach Wiesen und Wald sehnte, wo Gras und Blumen und Bäume frei und unbeeinträchtigt wuchsen und gediehen.
Vielleicht war auch das ein Grund, weshalb Lord Bromwell seine Reisen unternahm – um den vielen Regeln und Einschränkungen auf dem elterlichen Anwesen zu entkommen.
Am Ende des Gartens gelangte sie an einen Graben, der, dem eingefallenen Zaun in seiner Mitte nach zu urteilen, die Grenze des Anwesens bildete. Auf der anderen Seite war ein Pfad zu erkennen, der zu einem nahe gelegenen Wäldchen führte. Fest entschlossen, zu diesem Stück belassener Natur zu gelangen, holte Nell Luft, nahm Anlauf und sprang.
Als sie auf der anderen Seite aufkam, konnte sie einen Sturz nur knapp vermeiden und hatte Mühe, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch dann strebte sie entschlossen Richtung Wald und wanderte unter den Eichen, Buchen und Erlen entlang, erleichtert und glücklich, der erstickenden Strenge von Granshire Hall entkommen zu sein. Königsfarne säumten den Pfad und bedeckten den Waldboden. An den Baumstämmen wuchsen Flechten, und auf der dichten Laubdecke unter ihren Füßen waren ihre Schritte nicht zu hören. Auf einem Ast entdeckte sie zwei Buchfinken, deren rötliche Brust einen Farbfleck in dem gelb werdenden Laub bildete.
Der Weg war uneben, und ihre Kleidung eignete sich nicht für einen längeren Spaziergang, doch schon nach einer kurzen Weile hatte sie das Gefühl, sich in einem Zauberwald zu befinden und das Anwesen des Earl of Granshire weit hinter sich gelassen zu haben. Sie wäre nicht überrascht gewesen, hätte sie einen Wunschring gefunden oder einen Zentaur oder ein Einhorn getroffen.
Oder einen Prinzen, der in schimmernder Rüstung auf einem Schimmel dahergeritten kam und aussah wie Lord Bromwell.
Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wieder davonlief, wenn auch nicht so überstürzt wie das letzte Mal. Wahrscheinlich war es ohnehin das Beste, wenn sie Granshire Hall und den Viscount und seine Eltern verließ, aber wo sollte sie hin? Wo war sie sicher vor Lord Sturmpole und dem Gesetz?
Unwillkommen in der friedlichen Atmosphäre des Waldes, machte sich die
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