Ein skandaloeser Kuss
lächelte unverbindlich. „Danke für den Rat, Mylady. Ich werde daran denken, wenn er mir je einen Antrag machen sollte.“
Den ich in jedem Fall ablehnen müsste, um seinetwillen.
In Nachthemd und Morgenrock, die Füße in einfachen, selbst gestrickten Hausschuhen, stand Nell am Fenster ihres Schlafzimmers und blickte auf den Figurengarten von Granshire Hall hinunter. Aus keinem der Fenster fiel noch Licht auf die Terrasse, und außer dem gelegentlichen Schrei eines Nachtvogels war kein Laut zu hören.
Jetzt konnte sie zu ihm gehen.
Ihre Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt, daher brauchte sie keine Kerze, als sie geräuschlos die Tür öffnete und in den leeren Korridor spähte. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend – Bodendielen konnten knarren, und zwar laut! – legte sie die kurze Entfernung zu Justinians Zimmer zurück, drückte behutsam die Klinke und machte leise die Tür auf.
Sie hatte sein Schlafgemach noch nie betreten. Es war groß, dem Erben einer bedeutenden Familie angemessen. Ein wuchtiges, erhöht stehendes Himmelbett, zu dem mehrere Stufen hinaufführten, dominierte den Raum. Die Bettvorhänge waren nicht geschlossen, Mondlicht strömte herein, auch nicht die Portieren und die Läden der beiden hohen Fenster, die zur Vorderseite des Hauses und auf die weite, geschwungene Auffahrt hinausgingen. Sein Labor lag in der entgegengesetzten Richtung, und Nell fragte sich, ob seine Eltern ihm das Zimmer absichtlich zugewiesen hatten und ob er gern von der Sonne geweckt wurde.
Justinian lag schräg auf dem Bett ausgestreckt, seine nackte Brust war oberhalb der seidenen Decke sichtbar. Einen Arm hatte er auf den Brustkorb gelegt, der andere hing über die Bettkante.
Sie näherte sich ihm auf Zehenspitzen und nahm verwundert zur Kenntnis, wie spartanisch das Zimmer eingerichtet war. Außer dem Bett und einem Nachttisch mit einer Lampe darauf gab es nur einen Kleiderschrank an der Wand zu ihrer Linken, einen mit Papieren überhäuften Säulentisch mit einem Chippendale-Stuhl bei den Fenstern und, halb verdeckt von einem Paravent, einen Waschstand samt schlichter Frisierkommode, auf der lediglich eine Haarbürste und ein paar Rasierutensilien lagen.
Dann stand sie neben dem Bett.
Wie jung Justinian im Schlaf aussah, mit der Locke, die ihm in die Stirn fiel! Wie unschuldig und jungenhaft. Wenn dies das Bild war, das seine Mutter von ihm hatte, war es kein Wunder, dass sie den Gedanken, ihren Sohn in die Ferne ziehen zu lassen, nicht ertragen konnte.
Aber er war kein kränklicher, naiver Knabe mehr. Er war ein lebenserfahrener, kraftvoller Mann, der ihr gezeigt hatte, wie weit Intimität zwischen einem Mann und einer Frau gehen konnte.
Und sie wollte mehr darüber wissen.
Sie band den Gürtel ihres Morgenmantels auf und erklomm die Stufen zum Bett.
Leise seufzend bewegte er sich im Schlaf, und sie hielt den Atem an. Dann murmelte er etwas Unverständliches und drehte sich, die Decke mitziehend, auf die andere Seite. Zum ersten Mal konnte sie die Tätowierung auf seinem entblößten Rücken sehen.
Jedenfalls einen Teil davon – drei feine, parallel verlaufende schwarze Linien, die ein Muster aus leicht eckigen konzentrischen Kreisen bildeten, und obwohl der größte Teil des Bildmotivs unter der Decke verborgen war, wusste Nell, dass es sich um ein Spinnennetz handelte.
Was sonst?
Wie war die Tätowierung auf seinen Körper gelangt? Zeigte sie auch eine Spinne?
Sie zog den Morgenrock aus und legte ihn auf der obersten Stufe ab. Dann raffte sie das lange weiße Batistnachthemd und kletterte in das Bett, dessen Matratze unter ihrem Gewicht so sehr nachgab, dass sie fast sicher war, Justinian zu wecken.
Er schlief weiter, daher beugte sie sich zum ihm und zog langsam die Decke herunter, bis sie die ganze Tätowierung sehen konnte. Es handelte sich tatsächlich um ein Spinnennetz mit einer kleinen schwarzen Spinne in der Mitte.
Sie streckte die Hand aus, um die Linien nachzuzeichnen, doch kaum berührte ihre Fingerspitze seine Haut, hatte er sich auch schon herumgerollt und sie lag unter ihm, die Arme über dem Kopf, die Handgelenke in seinem schraubstockartigen Griff gefangen. Das Ganze geschah so schnell, dass sie nicht einmal dazu kam, Luft zu holen.
„Nell!“, stieß er entgeistert hervor. Er ließ ihre Handgelenke los, machte jedoch keine Anstalten, sich von ihr hinunterzurollen. „Was tust du …?“
Bromwell unterbrach sich, als er bemerkte, dass sie nur ihr Nachthemd
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