Ein Sohn für den Scheich
seiner Wut wäre Hassan imstande, der ganzen Sippschaft den Fehdehandschuh hinzuwerfen, und was immer Zafina getan haben mochte – eine offene Auseinandersetzung oder gar einen Krieg war es nicht wert.
Mit diesen trüben Gedanken legte sich Leona ins Bett. Schon bald quälte sie jedoch eine schreckliche Übelkeit. Mit letzter Kraft schaffte sie es bis ins Bad, fiel anschließend erschöpft ins Bett und schlief augenblicklich ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, wies einzig das Kopfkissen darauf hin, dass Hassan die Nacht neben ihr verbracht hatte. Sicherlich hatte er sie aus Rücksicht schlafen lassen, als er sich zu ihr gelegt hatte, und auch dass er zu so früher Stunde schon auf war, musste eine vernünftige Erklärung haben.
Wenigstens diese Hoffnung bestätigte sich, denn Hassan hatte sich gemeinsam mit Rafiq in sein Büro zurückgezogen. Das bedeutete jedoch auch, dass Leona ihn den ganzen Vormittag nicht zu Gesicht bekam und sich der Herausforderung, Zafina gegenüberzutreten, allein stellen musste – was ihr zu ihrer eigenen Überraschung erstaunlich gut gelang.
Trotzdem war sie froh, sich nach dem Mittagessen zurückziehen zu können, ohne Verdacht zu erregen. Sie fühlte sich regelrecht krank, und zu den quälenden Magenschmerzen, die ihr längst jeglichen Appetit geraubt hatten, waren stechende Kopfschmerzen hinzugekommen.
Einzig Evie schien aufgefallen zu sein, in welch schlechtem Zustand sich Leona befand. “Langsam mache ich mir ernstlich Sorgen um dich”, hatte sie ihr gestanden. “Du wirst von Tag zu Tag blasser.”
“Ich muss mir einen Virus eingefangen haben”, hatte Leona beschwichtigend erwidert, “und der Unfall ist auch nicht spurlos an mir vorbeigegangen.”
Wie ihr skeptischer Blick verriet, konnte diese Erklärung Evie nicht wirklich überzeugen, doch schließlich hatte sie ihre Freundin gehen lassen, ohne sie weiter zu bedrängen.
Leona war so erschöpft, dass sie auf direktem Weg in ihre Kabine ging, und kaum hatte sie sich ins Bett gelegt, war sie auch schon eingeschlafen.
Als sie aufwachte, konnte sie an dem faszinierenden Farbenspiel vor dem Fenster erkennen, dass die Sonne bereits unterging. Aus Sorge, zu spät zum Abendessen zu kommen, sprang sie förmlich aus dem Bett und duschte ausnahmsweise kalt, um die Lebensgeister so wirksam wie möglich zu wecken.
An Deck angekommen, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass unter freiem Himmel eine festliche Tafel gedeckt war. Erst als sie sah, dass mehrere Flaschen Champagner auf Eis lagen, fiel ihr ein, dass dies der letzte Abend ihrer Seereise war. Offenbar wollte Hassan der Tradition genügen und aus diesem Anlass ein großes Bankett geben.
Das Wörtchen “Abschied” ließ Leona unwillkürlich an Zafinas Besuch denken, und auch wenn sie sich gegen den Gedanken wehrte, hielt sie es plötzlich nicht mehr für ausgeschlossen, dass mit dem kommenden Tag mehr als nur eine Schiffsreise zu Ende ging.
Dass die Tischordnung für sie einen Platz neben Samir vorsah, während Hassan am Kopfende des Tisches saß, war wenig dazu angetan, ihr diese Angst zu nehmen. Entsprechend lustlos stocherte sie in den Köstlichkeiten, die der Schiffskoch zubereitet hatte. Als schließlich der Kaffee serviert wurde, der das Menü abschloss, staunte selbst der Diener darüber, wie wenig sie gegessen hatte.
Hassan war Leonas Appetitlosigkeit nicht entgangen, und mehrmals sah er zu Evie, die jedoch ebenso ratlos wirkte wie er.
Nachdem auf seine Anweisungen hin der Champagner entkorkt und jedem Gast ein Glas überreicht worden war, stand er auf und bat um Aufmerksamkeit.
“Gleich werden die Schiffssirenen ertönen”, sagte er feierlich, als er sicher sein konnte, dass alle ihm zuhörten. “Der Anlass ist, dass wir den nördlichen Wendekreis überfahren, ein Ereignis, das im Leben eines Seefahrers einen ähnlichen Stellenwert hat wie die Querung des Äquators. Deshalb möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben und mit mir auf dieses Ereignis anzustoßen.”
Kaum waren alle Gäste der Aufforderung gefolgt, verkündeten die Sirenen, dass der große Moment gekommen war. Nicht wenige gingen daraufhin zur Reling und sahen auf das Wasser hinunter, als hofften sie, eine Markierung zu finden, die die genaue Lage der gedachten Linie verriet.
Auch Leona war an die Reling getreten, doch nicht um nach dem Wendekreis zu suchen, sondern um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
“Bist du fündig geworden?”, erkundigte sich
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