Ein Sommer mit Danica
nicht flüchten, es war ausgeschlossen, aber er hätte es auch bei der günstigsten Gelegenheit nicht getan. Da war ein Verwundeter, man brauchte einen Arzt … das allein war jetzt wichtig. Nicht die Frage nach Recht oder Unrecht, sondern die Tatsache, daß ein Mensch vielleicht sterben würde, wenn er nicht half. Ein Arzt und ein Priester sind die Hände Gottes … und auch Gott hat nur zwei Hände.
Sie kamen in einen großen leeren Raum, was Corells Annahme bestätigte, daß es ein verlassenes Haus war. An den Wänden lagen einige Matratzen, in der Mitte stand ein Küchentisch. Darauf hatte man jetzt den Mann gelegt, den sie Harry riefen, und zwei ebenso Bärtige wie Corells Fahrer waren dabei, ihm den Anzug vom Körper zu ziehen. Der Verwundete stöhnte und hieb mit den Fäusten neben sich auf die Tischplatte.
Dann hatten sie den Oberkörper frei, blutverschmiert und zuckend. Corell zog seinen Mantel und seine Jacke aus und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch.
»Ein glatter Lungendurchschuß –«, sagte einer der Langmähnigen am Küchentisch.
Corell blickte ihn kurz an. Der Junge blinzelte mit den Augen. »Zukünftiger Kollege?«
»Im dritten Semester, Doktor.«
»Eine neue Arztgeneration! Besorgt sich die Patienten selbst mittels Ballermänner …«
»Soll ich ihm noch mal in den Arsch treten?« schrie Corells Entführer.
»Stop!« Corell stellte seine Tasche neben den Verwundeten. Er war so jung wie seine Freunde, klapperte vor Schmerzen mit den Zähnen und starrte Corell an wie ein geprügelter Hund. Wehrlos, um Gnade bettelnd, seinem Schicksal unentrinnbar ausgeliefert. »Ein Politologe mag zwar der Ansicht sein, daß man mit revolutionären Arschtritten die Welt verbessern kann, aber Sie – zukünftiger Kollege – werden bestätigen, daß man damit keine Lungenschüsse heilt. Lassen wir also das Arschtreten wegfallen und werden wir gut bürgerlich. – Ich brauche heißes Wasser, ein paar Handtücher, einen Topf mit kochendem Wasser und vor allem mehr Licht! Ist das unter Revolutionsgenossen möglich? Mehr Licht! Ich meine nur, weil das schon Goethe sagte, und das war ein Musterbeispiel des Establishment.«
»Der Kerl macht mich irr!« brüllte der Bärtige.
»Bitte, keine historischen Wiederholungen!« Corell beugte sich über den Verwundeten. Der Einschuß sah gut aus, rechts oben, die Kugel konnte nur den oberen Rand der Lunge durchschlagen haben. »Lenin starb an der Paralyse …«
Die Gruppe um ihn herum schwieg. Jemand brachte zwei starke Taschenlampen und hielt ihren Lichtstrahl auf den Brustkorb des Verletzten. Irgendwo in diesem Haus mußte auch noch eine intakte Küche sein, denn es dauerte nicht lange und zwei Schüsseln mit heißem Wasser und sogar drei saubere, zusammengelegte Handtücher wurden auf den Küchentisch gelegt. Corell blickte hoch und sah in zwei graublaue, große Augen. Ein Mädchen stand ihm gegenüber, in einem grauen Pullover und engen blauen Jeans, deren Taschen ausgefranst waren. Ihr Haar, braunrot im Licht schimmernd, war kurz geschnitten.
»Schafft er es auch?« fragte sie leise.
»Nicht, wenn ich ihn mit Mao-Sprüchen oder Marx-Parolen behandle.«
»Sie ist seine Braut –«, sagte der Medizinstudent. »Soziologin im achten Semester. Hat Harry innere Blutungen?«
»Nein.« Corell wusch den Oberkörper vom Blut sauber und holte aus der Arzttasche das Stethoskop. Er hörte die Lunge ab … sie rasselte ein bißchen, aber – wie schon beim ersten Blick erwartet – sie war nicht so schwer verletzt, daß Harry sofort, ohne Rücksicht auf die Folgen wie Verhaftung und Verhör, in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußte. »Wenn Sie mehr studieren und weniger terrorisieren würden, junger Kollege, könnten Sie das auch schon feststellen. Kein Schäumen beim Atmen, kein offener Pneumothorax. Rekapitulieren Sie Ihre anatomischen Kenntnisse, junger Kollege: Wo sitzt der Schuß? Na? In der Spitze des rechten Oberlappens. Glatter Austritt nach hinten. Alles deutet darauf hin, daß auch der apikale Segmentbronchus nicht verletzt ist. Ist so etwas tödlich?«
»Nein –«, sagte der Medizinstudent leise und senkte den Blick.
»Und du haust ihm nicht in die dämliche Fresse?« schrie der Bärtige und hob beide Fäuste.
»Laß das!« Das Mädchen legte ihre schmalen Hände auf die Brust des Verwundeten. Ihre Stimme war hell und schneidend. Eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Doktor, was nun?«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Und was können
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