Ein Sommer mit Danica
Sie?«
»Die Wunde versorgen, ihn von den Schmerzen befreien, eine Infektion verhindern und warten, wie die Natur sich selbst hilft. Er ist noch jung, er ist kräftig … man muß eben warten können.«
»Und Sie warten mit, Doktor.« Das Mädchen beugte sich über den Verwundeten, und küßte ihn auf den verzerrten Mund. Es war eine Zärtlichkeit, die gar nicht zu ihrem Typ paßte. Corell packte Verbandzeug aus. Penicillinpuder, Wundsalbe, Ampullen mit Kreislaufmitteln und Antibiotika.
»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte er, aber schon als er es aussprach, kannte er die Antwort. »Ich habe meine Patienten.«
»Sie haben nur noch einen: Harry!« Das Mädchen richtete sich auf. Ihre graublauen Augen blickten ihn kalt an. »Sie werden bei uns wohnen, wir werden Sie gut bewirten, Sie erhalten eine Matratze, Sie werden aufgenommen in unsere Kommune. Wenn Sie ein Mädchen brauchen, auch das bringen wir Ihnen.«
»Zu aufmerksam.« Corell reinigte den Einschuß und winkte. Der Medizinstudent und der zweite Langmähnige drehten den Verwundeten auf die Seite. Corell starrte auf den Ausschuß. Er sah weniger schön aus, aber bestätigte auch, daß die innere Verletzung nicht besorgniserregend war. »Meine Patienten warten.«
»Harry ist uns wichtiger als der ganze bürgerliche Scheißdreck.«
»Unter dem Scheißdreck könnte Ihre Mutter sein –«
»Wenn schon …« Das Mädchen hob die schmalen Schultern. Seine Lippen wölbten sich nach vorn. Es sah sehr verächtlich aus, so, als wollte es gleich auf alles spucken, was bisher vor ihm auf der Welt gelebt hatte. »Ich habe meine Mutter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«
»Ich habe Patienten, die täglich ihre Spritze haben müssen. Sie kämpfen für einen neuen realen Sozialismus … dazu gehört auch die Pflege der Kranken.«
»Sind Sie der einzige Arzt in Frankfurt? Na also! Aber für uns sind Sie der einzige Arzt! Für Harry gibt es nur Sie! Überzeugt Sie die Logik?«
»Nicht unbedingt.« Corell puderte die Wunden ein und nickte dem Medizinstudenten zu. Der zog jetzt eine Spritze mit Strophantin auf. »Logischer wäre gewesen, keine Banken zu berauben und kein Kaufhaus mit Bomben zu spicken.«
»Irrtum! Wir brauchen Geld für den Fortschritt und holen es uns da, wo es von der faulenden Gesellschaft gehortet wird. Und wir lassen Kaufhäuser hochgehen, um Zeichen zu setzen. Wir müssen die Welt wachschießen!«
Corell sah das Mädchen an. Es hatte leidenschaftlich gesprochen, und doch klang es nur wie eine Platte, die man abspielt, um mit ihr jedes andere Geräusch zu überdecken, das von draußen hereindringt.
»Ich bleibe hier –«, sagte Corell. Ihre Blicke prallten aufeinander wie Messerklingen. »Ihretwegen. Natürlich auch wegen Harry … aber vor allem Ihretwegen. Ich will Sie kennenlernen. Wie heißen Sie?«
»Dorothea Seiffertz.«
»Dorothea … Goethe hat Sie andere geschildert –«
»Sie lieben wohl Goethe, was?«
»Er war ein guter Mann, um in Ihrem Umgangston zu reden. Er hat literarisch gemacht, was mein bärtiger Entführer so gerne ausbrüllt: Leck mich am Arsch!« Corell begann, Harrys Oberkörper zu verbinden. »Meine Herren, verehrte Dorothea, Goethe müßte ihr Mann sein. Allein das revolutionäre Potential, das im ›Faust‹ versteckt liegt. Schon der Titel: Faust! Das ist doch eine Sprachbombe!«
Der Bärtige senkte den Kopf und schnaufte tief. »Ihr laß euch von ihm verarschen und tut nichts?« sagte er rauh. »Was ist denn los mit euch? Nur, weil Harry 'n Loch im Brustkasten hat … da darf der euch auf die Schippe nehmen?«
»Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in die Küche«, sagte Dorothea Seiffertz. »Wir können weiterdiskutieren, Doktor.« Sie blickte ihn ein paar Sekunden stumm an, und es war ein völlig anderer Blick als vorher. Corell kannte diese Veränderung der Augen und beugte sich schnell über den Verwundeten.
Bloß das nicht, dachte er. Der Himmel bewahre mich davor, in Dorotheas Herz ein Loch zu brennen. Er nahm sich vor, weniger zu reden und mehr zuzuhören.
Eine Stunde später lag er auf einer Matratze an der Wand. Dorothea hockte mit untergeschlagenen Beinen vor ihm auf dem Fußboden. Harry schlief nach drei Injektionen schmerzlos auf der Matratze nebenan. Die anderen Mitglieder der Kommune hatten sich auf die Zimmer verteilt, nur noch der Medizinstudent schlief in dem Raum – seine Matratze lag neben der Tür.
»Ich habe über Sie nachgedacht, Doktor –«, sagte Dorothea plötzlich. Sie stützte
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