Ein Sommer mit Danica
Vorsichtig, damit das Möbelstück nicht zerbrach, hockte sich der Riese Bizeps-Karle auf den Rand des Sessels, der ›schöne Edy‹ versank in den Polstern und verbreitete den Eindruck, gleich loszuweinen.
»Welche Patienten hat er besucht?« fragte der ›Lord‹. »Ich weiß es nicht.« Danica hob die Schultern. »Das hat die Polizei auch gefragt.«
»Ist die Krankenkartei noch hier?«
»Ja.«
»Schnell, Jungs, ehe die Polizei sie mitnimmt! Alle Namen aufschreiben, und dann soll die ganze Mannschaft losschwirren! Fräulein Danica, vertrauen Sie ganz auf mich … wir werden Ihnen sagen, wo unser Doktor geblieben ist. Bis zum Abend wissen wir es.«
Es war einfach, die Namen abzuschreiben … die Kartei war noch nicht umfangreich, wenn man von anderen Arztpraxen ausgeht. Corells neuer Anfang sprach sich zwar schnell herum, aber die Zeit war noch zu kurz, um wieder seine alte Praxis zurückgewonnen zu haben.
Der ›Lord‹ sortierte alles aus, was in der Kartei als abgeschlossen bezeichnet war. Er legte nur die Karteikarten zur Seite, die ihm – nach der Krankheit – wert für einen Nachtbesuch waren. Herzkrankheiten, grippale Infekte, Wöchnerinnen, drei Krebsfälle, Nierenentzündung, Gallensteine und natürlich auch Frau Gerhardts mit ihrem Asthma. Sie waren gerade mit der Arbeit des Herausschreibens zu Ende, als es wieder intensiv an der Tür klingelte. Der ›Lord‹ nickte zufrieden.
»Die Polizei –«, sagte er. »Das erkenne ich am Klingeln. Danica –«, er beugte sich wieder über ihre Hand und hielt sie fest – »ich verspreche Ihnen: Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen … und wir haben davon mehr als die Polizei. Glauben Sie mir.«
»Danke.« Danica versuchte zu lächeln. Plötzlich weinte sie, lautlos, es sah aus, als rollten aus großen Puppenaugen dicke Wassertropfen. »Sie … Sie sind ein guter Mensch.«
Verwirrt griff der ›Lord‹ nach seinem Hut und schloß die Tür auf. Draußen drückte die Polizei noch immer auf den Klingelknopf.
Es zeigte sich, daß es nicht die Polizei war. Kaum schwang die Tür zur Seite, stürzte ein gedrungenes menschliches Etwas in die Diele, sah die drei Männer, erkannte von ihnen nur Bizeps-Karle und warf ihm ohne Zögern seinen Koffer an den Kopf.
»Achtung!« schrie Karle noch. »Er hat eine Pis –«, da traf ihn schon der Koffer mit voller Wucht im Gesicht und schnitt ihm das Wort ab. Der ›schöne Edy‹ retirierte ins Wohnzimmer, nur der ›Lord‹ blieb steif stehen und musterte etwas hochnäsig den bulligen Mann mit den kurzgeschnittenen eisgrauen Haaren und dem wilden Schnauzbart. Petar Robic, in Selbstverteidigung geschult, war schnell und eisern. Er trat aus der Drehung heraus dem ›Lord‹ gegen das Schienbein und hieb gleichzeitig mit beiden Fäusten in seinen Magen.
»Väterchen!« schrie Danica auf. »Du irrst dich schon wieder! Er will uns helfen! Vater!« Sie riß Robic zurück und schloß die Tür. Der ›Lord‹ lehnte an der Wand und japste nach Luft.
Robic sah sich erstaunt um, wischte sich mit beiden Händen über den Kopf und versuchte eine linkische Verbeugung. »Wer hat noch nie geirrt?« sagte er. »Das ganze Leben ist voller Irrtümer, man kennt sich bald nicht mehr aus. Ich bin der Vater von Danica. Zum Teufel, wo ist Sascha? Noch immer verschwunden? So ein Lump! So eine Dreckgeburt! Läßt mein Töchterchen im Elend sitzen –«
»Er versteht es schon wieder falsch –«, sagte der ›Lord‹ mühsam. Sein Schienbein brannte, als hinge es über einem Grill. »Unser geliebter Doktor ist verschwunden –«
»Das sage ich doch!« schrie Robic.
»Aber nicht freiwillig! Irgend jemand hat ihn auf dem Gewissen …«
Das war der Augenblick, in dem Robic begriff, daß etwas Fürchterliches geschehen sein mußte. Er starrte Danica an, dann den ›Lord‹ und die anderen Männer. Er fühlte seinen Herzschlag bis zum Hals. »Man hat ihn –«, sagte er stockend.
»Ja. Noch wissen wir nichts …«
»Danica –«
»Väterchen –«
Er breitete die Arme aus, zog Danica an sich, drückte sie ganz fest an seine Brust, und so begannen sie beide laut zu weinen.
Im Wohnzimmer, zusammengesunken in einem Sessel, hockte der ›schöne Edy‹ und weinte mit.
*
Drei Stunden später – lange vor der Polizei, die erst gegen sieben Uhr abends die Patientenkartei abholte – wußte der ›Lord‹, wo Dr. Corell zuletzt gewesen war. Er selbst sprach mit Herrn Gerhardts und seiner Frau Pauline, der es etwas besser ging. Der Nebel
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