Ein Sommer mit Danica
herum, Hände packten ihn, hoben ihn hoch, schoben ihn über die dichtgedrängten Köpfe, klebten ihn unter das Gondeldach. »Nein!« schrie er dort oben weiter. »Nein! Nein!«
Jemandem gelang es, die Schiebetür zu entriegeln und aufzustoßen. Kälte und pfeifender Fahrtwind schlugen in die Gondel … der nächste Pfeiler, wieder der kreiselnde Höllentanz … vom Schnee gebogene Tannen rasten an ihnen vorbei, der Steilhang unter ihnen war wie ein rauschendes weißes Meer …
Von hinten drängte die Masse der schreienden Menschen nach vorn. Die an der Tür standen, noch unschlüssig, festgeklammert an dem Türrahmen, verloren den Halt. Man stieß sie hinaus, sie flogen durch die Luft, überschlugen sich, verschwanden in der Tiefe, bohrten sich in den Schnee … drei … fünf … zehn schwarze Flecken blieben zurück, wie Stufen den Berg hinauf …
Brüllend wurde der Schaffner hinausgeworfen, ihm folgten zwei Männer, die ihre Frauen umklammert hielten … und die Gondel raste zu Tal, ungebremst mit höllischer Geschwindigkeit.
Hilde Corell hatte sich hinten an das Fenster gedrückt und dachte an gar nichts. Es ist ein verlogenes, vielleicht auch tröstendes Märchen, daß in den Sekunden des Todes noch einmal das ganze Leben vorbeizieht, daß man an das Liebste denkt, das man zurückläßt, daß man Abschied nehmen kann. Hilde Corell war in diesen Minuten leer wie die Gondel, in der sie stand. Nur noch der filmende Mann war bei ihr … er stand da, breitbeinig, den Apparat vor dem Auge und fotografierte den Tod.
»Springen Sie!« rief er. »Die letzte Chance …«
»Ich habe Angst –«, sagte Hilde ruhig.
»Wir krachen wie eine Granate gegen die Betonwand der Station!«
»Ich habe Angst …«
»Gott mit Ihnen!« sagte der Mann. Er hängte sich die Kamera um den Hals, wippte in den Knien und stieß sich ab. Hilde sah ihn durch die Luft fliegen, zusammengerollt, eine ausgefranste Kugel, die schnell verschwand. Hilde Corell schloß die Augen. Die fürchterliche Leere um und in ihr war bereits ein Teil des Todes. Bei dem letzten Pfeiler begann sie zu schreien, hielt sich an der Stange am Fenster fest und fiel in die Knie …
Fünf Sekunden später zerplatzte die Gondel an der Betonwand der Talstation.
*
»Und Pula?« fragte Danica.
Sie saß jetzt neben Corell, hatte den Arm um seinen Nacken gelegt, und sie hielten gemeinsam die Flasche Maraschino-Brandy fest, als sei sie ein Rettungsring. Am Nebentisch hatte Bojan, der Wirt, begonnen, sich einen Slibowitz nach dem anderen einzuschütten. Er kannte etwas von der Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber. Er hatte zwei Söhne gehabt, und was von ihnen übriggeblieben war, waren zwei Namen auf einer Steintafel, vierzig Kilometer tiefer im Inneren des Landes: Erschossen von deutschen Soldaten. Das war lange her, fast siebenundzwanzig Jahre, aber manchmal kam der ganze Jammer wieder in ihm hoch.
»Pula –«, sagte Corell gedehnt. »Ja, Pula. Da habe ich Hilde kennengelernt. Sie war damals achtzehn, Schwesternhelferin in einem Lazarett. Eine grausame Zeit … wir lernten uns lieben, als wir einem Sterbenden die letzte Hilfe gaben … ich spritzte ihm Morphium, sie hielt seine Hände und erzählte, daß seine Mutter geschrieben hätte. Das war eine Lüge, aber der Junge starb mit einem glücklichen Lächeln. Ja, so hat es mit uns begonnen … sie drückte ihm die Augen zu, und ich legte meine Hand über ihre Hand. Liebe auf dem kalten Gesicht eines Toten. Das war nur damals möglich … Aber wir waren die glücklichsten Menschen der Welt. Nach dem Krieg haben wir dann geheiratet … der Medizinalassistent und die Krankenschwester.«
»Und warum heute Pula?« fragte Danica.
Corell ließ die Flasche los. »Das verstehst du nicht, Engelchen«, sagte er rauh.
»Du willst sterben, nicht wahr?«
»Habe ich das auch in meiner Bewußtlosigkeit gesagt?«
»Ja.«
»Dann wird es stimmen.«
»Warum hat dich kein Mädchen wieder geliebt?«
»O, das ist ein Irrtum! Mein Bett war wie ein Wartesaal. Es ging raus und rein. Links die Flasche, rechts ein Weib. Aber am Morgen war alles zum Kotzen. Das verstehst du nicht …«
»Ich verstehe alles, was du sagst, Sascha … Niemand hat dich geliebt!«
»Mein Gott, ich bin ein Wrack! Man kann mit mir anstellen, was man will – auch ein poliertes Wrack bleibt ein Wrack.«
»Man kann es umbauen und renovieren, dann ist es wieder wie neu …«
Er sah sie an, ihre braungrünen Augen liebkosten ihn, und er dachte: Nein! Nein,
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