Ein Sommer mit Danica
schob die Pfanne zur Seite und zog seinen Rock über. Als er öffnete, wußte er, daß er einen großen, nie wieder rückgängig zu machenden Fehler begangen hatte. Um zehn Uhr abends sucht man keinen Arzt wie Dr. Corell auf, kein normaler Patient, aber er hatte sich in den vergangenen Stunden schon so in sein wiederentdecktes Leben hineingerollt, daß er nicht an seinen alten Patientenstamm dachte, der zu jeder Tageszeit hatte zu ihm kommen können. Vor der Tür stand dichtgedrängt eine kleine Gruppe alter Bekannter: Kletter-Egon, Zwinker-Willi, Nasen-Franz, der ›Traurige‹ und – in einem hellgrauen Maßanzug, Seidenhemd und italienischen Schuhen – der ›Lord‹. Sogar eine Frau war dabei: Gretchen mit den ungleichen Brüsten, links Größe 4, rechts Größe 6, und das nicht krankhaft, sondern natürlich gewachsen – und ganz im Hintergrund der ›schöne Edy‹, etwas bleich, schwitzend, sich mit seinem Hut Luft zufächelnd.
Dr. Corell lächelte schief. Er wollte die Tür zuschlagen, aber Nasen-Franz hatte längst seinen Fuß dazwischen gestellt. Er hatte das erwartet.
»Dürfen wir eintreten?« fragte der ›Lord‹ höflich.
»Alles krank?« fragte Dr. Corell mit Galgenhumor. Er gab die Tür frei, und die Abordnung seiner ehemaligen Freunde marschierte ins Zimmer. Um nicht gestört zu werden, zog der ›Traurige‹ den Schlüssel ab und steckte ihn ein.
Corell setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zog die Schublade auf. Der ›Lord‹ musterte ihn mißtrauisch. »Einen Knaller?« fragte er. »Doktor, wir wollen uns nicht streiten, wir wollen uns unterhalten. Edy hat uns berichtet, was Sie planen. Sie wollen wieder der feine Pinkel werden, als der Sie zu uns kamen, und erst wir haben einen Menschen aus Ihnen gemacht. Alles vergessen, Doktor? Wer hat geweint wie ein kleiner Hund und hat in den Bars herumgesessen, bis wir uns sagten: Dem Kerl müssen wir helfen. Der weint sich alle Flüssigkeit aus dem Körper und hat dann nichts mehr zum pissen. Wer hat Ihnen die Lilly ins Bett gelegt, damit Sie wieder auf Touren kommen?«
»Und ein Jahr lang hatten Sie bei mir freies Saufen!« schrie Zwinker-Willi.
»Wir haben jeden hinter die Ohren gehauen, der zu einem anderen Arzt als zu Ihnen ging.« Der ›schöne Edy‹ sagte es mit weinerlicher Stimme. »Und nun dieser schmähliche Verrat! Wegen einer Frau … pfui, Dokterchen!«
»Ich habe es satt, weiter in der Gosse zu liegen. Nein, ich habe nichts vergessen, Lord. Ohne euch wäre ich längst verfault … aber Dankbarkeit heißt nicht, der Sklave seiner Wohltäter zu werden. Ich weiß, was ihr sagen wollt: In unseren Kreisen bricht man nicht aus, mit Ausnahme aus dem Knast. Das ist eine falsche Moral, Lord. Ich war nie einer von euch … ich war euer Arzt. Das ist ein Unterschied.« Er griff in die Schublade und holte einen langen, dicken Totschläger hervor. Einen Lederstab, in den man eine starke Stahlfeder eingenäht hatte. Am Griffende war eine Schlaufe, am Schlagende glitzerte eine Stahlkugel. Wer mit diesem Instrument bearbeitet wurde, hatte nachher einen Chirurgen nötig … oder den Sarghändler. Der ›Lord‹ und seine Freunde sahen stumm auf die gefährliche Waffe. Man brauchte ihnen nicht zu erklären, was sie in Corells Hand bedeutete.
»Ich habe Sie immer gern gemocht, Doktor –«, sagte der ›Lord‹ langsam.
»Ich weiß es. Ich habe Sie von Ihrer chronischen Nephritis geheilt. Ohne mich lägen Sie jetzt an der künstlichen Niere …«
»Das vergesse ich Ihnen nie, Doktor.«
»Und mir haben Sie die Magengeschwüre weggezaubert«, sagte Gretchen mit den ungleichen Brüsten. »Das haben sechs Ärzte nicht gekonnt …«
»Wissen Sie noch, wie das mit mir war?« fragte Kletter-Egon.
»Aber natürlich. Du hattest eine Leukokeratosis linguae, eine seltene Sache, Egon. Bis du mir gestanden hast, daß du mit 25 Jahren die Syphilis hattest …«
»Und Sie haben mich geheilt …«
»Und ich?« sagte der ›schöne Edy‹. »Dokterchen …«
»Bei dir wartete ich immer schon auf einen Prolapsus uteri …«
Der ›schöne Edy‹ erbleichte. »Was ist das?« stammelte er.
»Ein Gebärmuttervorfall …«
Der ›schöne Edy‹ verdrehte die Augen und schluckte. Niemand lachte.
Endlich sagte der ›Lord‹ langsam, und viel Ernst lag in seiner Stimme: »Sie sehen, Doktor … was sollen wir ohne Sie machen? Sie gehören zu uns wie unser Vorstrafenregister. Wir brauchen Sie. Wenn man so etwas einem Arzt sagt, sollte man nicht
Weitere Kostenlose Bücher