Ein Sommer und ein Tag
den Jahren? Wieso habe ich mich nicht bei ihm gemeldet? Die nächsten beiden Fragen für meine endlose Liste.
Ich gelange an einen Pfad, der durch ein Dickicht aus Bäumen führt. Es wird steiler, und ich werde vorsichtiger, gehe den Abhang seitlich hinunter und suche mit den Schuhsohlen an rauen Wurzeln Halt, die immer wieder aus der Erde ragen. Und dann, völlig ohne Vorwarnung, machen die Bäume einer unberührten, verführerischen, paradiesisch aussehenden Wasserfläche Platz. Ich erstarre. Mir fällt auf, dass ich den Atem angehalten habe und dass ich, anstatt von der Schönheit des Anblicks hingerissen zu sein, Angst habe, eine unterschwellige Furcht durchströmt mich, warnt mich, sagt, dass der Schein trügt.
Ich zwinge mich, Luft zu holen und trotzdem weiterzugehen, hinunter an den Steg, der etwa fünfzehn Meter weit in den friedlichen, regungslosen See hineinführt. Die Pfosten, die aus dem Wasser ragen, sind noch vom Morgennebel umhüllt. Meine Schritte hallen dumpf von den Planken wider, als ich den Steg betrete – donk, donk, donk –, und plötzlich muss ich über die Dramatik lachen: Ich komme mir vor wie in dem Horrorfilm, den ich neulich im Fernsehen gesehen habe; als würde jeden Moment jemand mit einer Kettensäge aus dem Wald gerannt kommen und mich zerstückeln. Ich gehe bis zum Ende, ziehe die Turnschuhe aus, setze mich hin und strecke die Füße ins Wasser. Es ist eisig, und ich verliere augenblicklich jedes Gefühl in den Zehen.
Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, presse sie fest hinein, um alles andere auszusperren, sogar die reglose Stille des Waldes, und ignoriere die Eiseskälte, die bis zu den Knöcheln hochstrahlt. Ich lege mich zurück, mache die Augen zu und erlaube meiner Phantasie, sich auszumalen, wer ich einmal war, damals, mit dreizehn, als nichts so war, wie es schien, ehe mir auch diese Illusion noch genommen wurde.
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29
L ange nachdem meine Zehen so blau geworden sind, dass ich mich schließlich auf meine Füße setzen muss, der fadenscheinige Versuch, sie wieder aufzuwärmen, nachdem ich ihnen vorher absichtlich Schaden zugefügt habe, ist Wes plötzlich da.
Zuerst höre ich nur Schritte hinter mir – donk, donk, donk –, drehe mich aber nicht um, aus Unsicherheit darüber, was mich erwartet. Die Liste der Missstände zwischen mir und den vermeintlich geliebten Menschen ist endlos. Peter? Da kann ich mich auch gleich umbringen. Meine Mutter? Vielleicht ertränke ich sie in diesem See. Anderson? Frag mich später noch mal danach.
Doch dann tippt Wes mir auf die Schulter und sagt: «Hey!», und meine innere Starre löst sich langsam wieder. Ich drehe mich um, schirme mit der rechten Hand die schwache Oktobersonne ab und bringe sogar ein verhaltenes Lächeln zustande.
«Ich habe mich davongemacht, ehe jemand was gemerkt hat», sagt er.
«Tut mir leid, dass ich dir den Affenzirkus ins Haus gebracht habe.» Ich stoppe die Musik. «Mir war nicht klar, dass sie kommen würden.»
«Das ist immer so.»
«Wie bitte? Wie meinst du das?»
«Die Familie. Man bekommt nie eine Vorwarnung.» Er deutet auf den iPod und spricht das Offensichtliche aus: «Musik.»
«Den hat Rory mir nach meinem Unfall geschenkt.» Ich zucke mit den Achseln. «Lieder aus meinem alten Leben. Manchmal regen sie etwas an, bringen mir Dinge zurück.»
«Du hattest es schon immer mit Musik – früher hast du dir immer kleine Spottlieder über mich ausgedacht, kurze Reime, um mich zu ärgern, wenn ich dich mal wieder beim Wettschwimmen geschlagen habe.» Er lächelt, und ich lächle auch. «Also», sagt er nach einer Weile. «Was willst du von mir wissen?»
Ich muss lachen. «Ich habe die Nase voll von Leuten, die mir ihre Geschichte erzählen. Offensichtlich hat jeder seine ganz eigene Ansicht von meinem Leben, aber deshalb muss sie noch lange nicht stimmen.»
«Du warst schon immer weiser, als dein Alter es vermuten lässt. Ich will dir nur sagen, dass ich dir gerne helfe. Ein paar Leerstellen zu füllen, falls du selbst nicht weiterkommst.»
Ich lächle, weil er es so gut mit mir meint. Wir schweigen beide, und die Bäume machen es sich um uns herum gemütlich. Ich mustere ihn eine Weile, während er versunken auf die andere Seite des Sees starrt, und plötzlich kann ich es sehen, genauso klar wie die kühle Virginia-Morgenluft – dass diese blaubraunen Augen trotz der winzigen Fältchen, die ein Übermaß Sonne und zwanzig Jahre mit sich bringen, trotz der
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