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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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verlangt?
    «Ehrlich gesagt», murmelte er, «bin ich schon ein bisschen überrascht. Klar, wir bewundern uns gegenseitig, aber vielleicht verwechseln wir hier gerade etwas.» Es war klar, wen er mit wir meinte: mich .
    Also entgegnete ich: «Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich dir regelmäßig Frauen an den Hals werfen, du bist nämlich so eine Art Flittchen, und deshalb finde ich es seltsam, dass du überrascht bist.» Das war natürlich gemein, aber ich war sauer, weil ich mich zum Narren gemacht hatte, und weil ein Körnchen Wahrheit enthalten war, ging er nicht weiter darauf ein.
    Er antwortete nur, und es klang vielleicht ein bisschen traurig: «Nell, ich glaube, wir sind im Moment beide ganz schön am Arsch. Ich meine, du hast vor vierundzwanzig Stunden deinen Mann verlassen. Und außerdem bist du die einzige richtige Freundin, die ich habe – du bist die Frau, die mir das Leben gerettet hat  –, vielleicht sollten wir das nicht aufs Spiel setzen.»

    Ich drehe mich um, die verklebten Augen geschlossen, einen Geschmack nach vergorenen Weintrauben auf der Zunge, und werfe mir den Arm über das Gesicht. Ich fühle die Abdrücke des Lakens auf meiner Wange, und in meiner Kehle brennt der Restalkohol. Von unten dröhnt unaufhörlich Lärm herauf, der mir den Puls nach oben treibt, und ich schäle mich aus der Bettdecke, werfe mir die Jacke über die zerknitterten Klamotten und gehe nachsehen. Es klingt, als würde jemand auf der Veranda hämmern, bis mir irgendwann klar ist, dass es der Türklopfer sein muss. Ein Blick auf die Standuhr in der Diele verrät, dass es erst Viertel nach neun ist. Anderson und Wes schlafen sicher noch.
    Ich reibe mir den Schlaf aus dem rechten Auge und fahre mit der Zunge über die Zähne. Hätte ich doch gestern bloß noch die Zähne geputzt.
    «Ich komme!», krächze ich. «Komm ja schon, komm ja schon!»
    Ich schiebe den Riegel zurück, den Anderson, ehe er, wann auch immer er schließlich ins Bett gegangen ist, noch vorgeschoben hat, öffne die Tür und werde von einem kühlen Windstoß begrüßt.
    «Na, Gott sei Dank!», ruft meine Mutter aus und reißt mit klirrenden Armreifen theatralisch die Arme hoch. «Habe ich dich noch rechtzeitig gefunden, um dich wieder zur Vernunft zu bringen und endlich nach Hause zu holen.»
    Sie schiebt sich ungebeten an mir vorbei, und ich will gerade die Haustür zuwerfen, als ich Peter am Fuß der Veranda entdecke und zwei Schritte hinter ihm auch noch Rory. Meine Mutter, meine verfluchte Mutter, kann es einfach nicht lassen. Damals nicht, früher nicht, heute nicht. Nichts ändert sich, auch wenn alles anders ist.

    Ich weigere mich, mit ihnen zu reden, zieh mir etwas über, schnappe mir meinen iPod und die Kopfhörer und flüchte durch die Hintertür, ehe mich jemand zurechtweisen kann, weil ich nicht tue, was von mir erwartet wird. Mich mit meinem Ehemann aussöhnen. Mich bei meiner Mutter entschuldigen, weil ich ständig in alten Geschichten rumwühle, die sie schon längst begraben hat. Weil ich die Tatsache ignoriere, dass meine Schwester mich wieder mal übertrumpfen musste, obwohl ich ihr Spiel gar nicht mehr mitspiele.
    Ach, scheiß auf eure Erwartungen! , denke ich, während meine Füße das dürre Gras auf dem Abhang zum See zertreten. Vielleicht sollten sie zur Abwechslung mal in meine Haut schlüpfen, um mitzukriegen, wie das ist, wenn es keine beschissenen Erwartungen gibt, weil man keine Ahnung hat, was gewesen ist, genauso wenig, wie was noch kommt.
    Ehe ich mich der Musik hingebe, halte ich inne und nehme den Anblick in mich auf, lasse die Atmosphäre in mich eindringen, wie ich es vielleicht mit dreizehn getan habe. Es ist unheimlich ruhig hier – ab und zu zwitschert ein Vogel, oder es raschelt in einem Baum, aber sonst ist außer meinem Atem und meinen Schritten nichts zu hören. Völlige Stille. Wie im Koma. Anders als im Haus, denn ich bin sicher, dass dort jetzt ein infernalischer Lärm herrscht. Meine Mutter wird immer noch so tun, als ließe sich der Sturm mit ihren New-Age-Methoden besänftigen; Rory wird wie eine Furie über Anderson herfallen, weil er ihr Geheimnis verraten hat; und Anderson wird sich in schauspielerischer Manier lautstark verteidigen.
    Armer Wes.
    Ich habe ihm die Hölle ins Haus gebracht. Doch dann fällt mir ein, dass er mir einen Brief geschrieben, mir seine Schlüssel geschickt hat – in der ganzen Verwirrung gestern Abend habe ich völlig vergessen zu fragen, warum: warum jetzt, nach all

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