Ein Sommer und ein Tag
Sie greift nach meiner Hand.
«Das Angebot würde ich nicht ausschlagen», mischt Rory sich ein.
«Peter hat mir versichert, dass er sich der Situation absolut gewachsen fühlt», schneidet meine Mutter ihr das Wort ab.
«Klar, der hat dir bestimmt alles Mögliche versichert», schießt Rory zurück. Die beiden benehmen sich, als wäre ich gar nicht da.
«Es hängt ganz von dir ab, Liebling», fährt meine Mutter fort, ohne Rory zu beachten. «Natürlich wäre es in New York sehr viel einfacher, die Therapie zu absolvieren, ganz abgesehen von der Tatsache, dass es wichtig für dich ist, wieder ganz in deine alte Welt einzutauchen. Dr. Stark ist der Meinung, das könnte dabei helfen, dein Gedächtnis zurückzubringen.»
Rory macht Pah! , merkt, dass sie es laut getan hat, und entschuldigt sich halbherzig. «Nichts gegen Dr. Stark.»
«Du kannst immer noch nicht lockerlassen wegen der Sache mit Peter», sage ich.
«Bei manchen Dingen lohnt es sich dranzubleiben.»
«Ganz genau!», mischt meine Mutter sich ein. Entweder, sie hat Rory missverstanden, oder sie missversteht sie absichtlich. «Es lohnt sich, manche Dinge nicht aufzugeben. Ihren Ehemann. Ihre Ehe. Gib ihr doch die Chance, an diesen Dingen festzuhalten.» Sie unterbricht sich kurz. «Außerdem», trumpft sie dann auf, «hast du doch dieses wunderbare Konzept, diese Vision von deiner völligen Veränderung. Das ist etwas ganz Wesentliches. Wir alle – du, Peter, jeder – haben eine zweite Chance verdient. Liebling, denk daran, dass ich jetzt fünfundsechzig bin und ich nie aufgehört habe, mich immer wieder neu zu erfinden!»
Ich höre ihr zu, und obwohl mein altes Ich vielleicht die Augen verdreht und innerlich gewürgt hätte, bemüht sich mein neues Ich, sie ernst zu nehmen. Das Gegenteil von dem zu tun, was ich früher getan hätte. Deswegen und auch, weil ich Dr. Stark vertraue, sage ich ihnen, dass ich mich dazu entschieden habe, an meiner Ehe festzuhalten. Dass ich mich für Peter entschieden habe, trotz der Bedenken meiner Schwester und trotz der zwar leisen, aber eindringlichen Stimme in meinem Ohr, die mir nachdrücklich davon abrät. Meine Mutter umklammert meine Hand noch fester und verspricht mir, dass ich es nicht bereuen werde. Rory kaut auf ihrem Kaugummi herum und schweigt.
Und jetzt ist der Tag gekommen. Die Zeit vergeht, ob mit oder ohne Gedächtnis, und zieht mein Leben mit sich fort. Peter kommt wieder nach Iowa zurück, um das Gefolge, das mich nach Hause geleiten soll, anzuführen.
«Sie werden in New York in besten Händen sein», verspricht Dr. Stark mir wenige Stunden vor meiner Abreise. «Sie können es doch sicher kaum noch erwarten, endlich zurückzukehren.»
«Stimmt», sage ich, obwohl es in Wirklichkeit nicht stimmt. Zu was kehre ich denn zurück? Rory und ich haben uns darauf geeinigt, dass ich wieder in der Galerie arbeiten werde – versuchsweise, nur ab und zu mal ein paar Stunden –, sobald ich wieder bei Kräften bin, und Peter hat angeboten, auf dem Sofa zu schlafen, solange wir uns an das Thema Verzeihen herantasten. Genauso hat er es gesagt, und ich weiß, dass meine Mutter ihm die Worte in den Mund gelegt hat.
Meine Mutter wuselt überall herum, redet und lacht unentwegt – sie erinnert mich an den Roadrunner-Trickfilm, den ich eines Morgens gesehen habe, als ich nicht mehr schlafen konnte, und ich wünschte, sie würde endlich still sein. Aber ich schlucke es herunter und versuche dankbar zu sein, versuche mir bewusst zu machen, dass es genügend andere Dinge gibt, über die man sich aufregen kann, und dass meine nervige Mutter, die sich einfach nur zu sehr einmischt, eher nicht dazugehört. Sie räumt im Zimmer herum und fängt dabei an zu summen, ganz unbewusst. Instinktiv stimme ich mit ein. Sie hebt überrascht den Kopf, es entfährt ihr ein «Ach!», und dann ist sie plötzlich ganz gerührt, nimmt mich in den Arm und sagt: «Das haben wir früher auch immer getan, als du noch klein warst.»
Im Grunde gibt es trotz des ganzen Wirbels, den sie darum veranstaltet, nicht viel zu packen, dafür aber umso mehr Anweisungen zu notieren, Tabellen und Akten weiterzuleiten, ewig viele Verabschiedungen und Danksagungen auszusprechen, was ich aufrichtig und mit sehr gemischten Gefühlen tue. Meine Trauer darüber, die Ruhe und Berechenbarkeit des Krankenhauses verlassen zu müssen, sitzt wie ein dicker Kloß in meiner Kehle, den ich mühsam hinunterzuschlucken versuche.
Die Fluggesellschaft stellt uns
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