Ein Sommer und ein Tag
dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
«Arbeit, glaube ich.»
«Arbeit, glaubst du?»
«Na ja, ich meine, jetzt, wo ich darüber nachdenke, haben wir im Grunde genommen eigentlich immer, wenn wir gesprochen haben … na ja, wir haben meistens über irgendwas gelästert.»
«Über was zum Beispiel?», fragte ich. Die Frau vom People -Titelblatt sah aus, als wäre Lästern ihr Leben gewesen.
«Ach, meine Schwiegermutter, deine Mutter. Mein Schlafmangel, mein Terminplan. Deine Schwester. Solche Dinge eben.» Sie atmete hörbar aus. «Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen – wie selten wir uns über das unterhalten haben, was uns wirklich glücklich macht.»
«Was habe ich denn so über meine Schwester gesagt?» Ich ignorierte ihre Bemerkung über das Glück. «Was hatte ich denn wohl an ihr auszusetzen?»
Sam lachte. «Ach Gott, weißt du, bitte versteh mich jetzt nicht falsch, aber auf gewisse Weise ist es vielleicht sogar besser, dass du dich nicht daran erinnern kannst. Von wegen Tabula rasa und so. Also ihr beide – ihr habt euch doch ständig in die Wolle gekriegt. Was unter Schwestern eben so läuft, Konkurrenz und Abgrenzung, du weißt schon. Ihr habt euch gegenseitig in den Wahnsinn getrieben, in der Galerie wart ihr nie einer Meinung, beide stur ohne Ende. Du warst pingelig, und sie hat es mit den Einzelheiten nie so genau genommen. Du warst reserviert, sie brauchte immer viel Aufmerksamkeit. Wie Yin und Yang oder Öl und Wasser.»
«Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen», sagte ich.
«Das ist doch das Gute an Tabula rasa», antwortete sie. Dann erschien ihr Klient, und sie musste Schluss machen. «Du bist nicht vorbelastet, das ermöglicht dir einen echten Neuanfang.»
Kurz nachdem Dr. Stark mir mitgeteilt hat, dass er mich entlässt, damit ich zu meiner Schwester und zu meinem Ehemann zurückkehren und herausfinden kann, weshalb ich früher mal für ihn Musik gemacht habe, steckt Jamie den Kopf zur Tür herein.
«Neuigkeiten», sagt er. «Es gibt Neuigkeiten.»
«Bei mir auch», antworte ich.
«Du darfst nach Hause. Weiß ich schon.» Er grinst, ein bisschen zu selbstgefällig.
«Natürlich weißt du das!» Ich schließe die Augen.
«Das gehört zu meinem Job.»
Ich höre, wie er sich einen Stuhl ans Bett zieht, und als ich die Augen wieder öffne, sitzt er neben mir.
«Schön. Meine Neuigkeiten kennst du schon. Und was gibt’s bei dir?»
«American Profiles» , sagt er.
«American Profiles?» , frage ich zurück.
«Ja, American Profiles .» Er betont beide Wörter überdeutlich, als wäre das die Antwort auf alle Fragen. «Die Fernsehsendung. Am Dienstagabend.» Ich schüttle verständnislos den Kopf. «Also, American Profiles ist eine Porträtsendung über außergewöhnliche Lebensläufe, außergewöhnliche Menschen. Kann sein, dass sie Interesse haben.»
«Interesse?»
«An uns, an einer Geschichte über dich!» Er klatscht nachdrücklich in die Hände. «Ich war wie ein Irrer dahinterher, und ich glaube, heute haben sie angebissen.»
Sorgfältig wickle ich das Kopfhörerkabel um den iPod und denke nach. Mein Gefühl – meiner anfänglichen Leidenschaft für die Operation Freiheit für Nell Slattery zum Trotz, eine Leidenschaft, die inzwischen viel von ihrem Schwung verloren hat, wie das mit spontanen Schnapsideen oft so ist – rät mir, mich unter der Bettdecke zu verstecken, bis die Öffentlichkeit ihr Interesse an mir und meiner Geschichte verloren hat. Aber mein neues Ich, mein fabelhaftes Ich , das sich die O.F.N.S. überhaupt erst ausgedacht hat und dem ich mich verschrieben habe, aus Dankbarkeit, den Flugzeugabsturz überlebt zu haben, beschwört mein Gefühl, noch einmal darüber nachzudenken, die Gelegenheit als Chance zu begreifen – wofür, weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht nur, um mein Leben etwas spannender zu gestalten, um endlich nicht mehr nur am Rand zu stehen und mir den Hals danach zu verrenken, was an mir vorüberzieht. Außerdem ist Jamie auch Mittel zum Zweck für mich – er ist unterwegs, recherchiert Details, gräbt Informationen aus –, und mein neuer Instinkt, mein neues Bauchgefühl, rät mir, ihm zu vertrauen. Erst letzte Woche haben wir ein stundenlanges Interview gemacht, das sein Sender über drei Abende gestreckt gesendet hat. Die Zuschauer staunten über meine Amnesie und schickten unzählige E-Mails.
Was würde ich dafür geben, die Erinnerung an meine miesen Exmänner (drei Stück) und an meinen
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