Ein Sommer und ein Tag
immer wieder angesehen, teils, weil sie so gruselig war, und teils, weil wir schon fünf Minuten vorher kichern mussten. Wir wussten ja, was kommt.
Ich saß vor dem Fernseher, nahm die Handlung ein bisschen zu persönlich, ließ mir die Sache ein wenig zu nahegehen, und alle Zweifel, die ich an Peter hatte, überfielen mich erneut – der Predigt meiner Mutter zum Thema Verzeihen sowie Peters eigenem Flehen zum Trotz. Ich starrte Glenn Close mit ihrem grausamen Blick und der wilden, ungezähmten Mähne an und sah dabei Ginger vor mir. Sie war für mich Ginger. Und ich fragte mich, ob Michael Douglas, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte und noch einmal die Wahl hätte – ehe sie sein Kaninchen gekocht hat, ehe ihm klarwurde, welches Unglück er über seine Frau und seine Familie gebracht hat –, es wieder tun würde oder ob er seine Lektion tatsächlich gelernt hat. Nicht weil Glenn sie um ein Haar alle umgebracht hätte, sondern weil er es überhaupt nie hätte tun dürfen. Darin besteht nämlich ein Unterschied. Aber das werden wir niemals erfahren.
Ginger! Glenn!
Ich hatte Peter zwar versprochen, dass ich nicht mehr daran dächte, dass es keine Rolle spiele, aber es gelang mir nicht, sie völlig aus meinen Gedanken zu verbannen. Es gab nichts, an das ich mich stattdessen hätte erinnern können: keine gemeinsame Geschichte, auf die ich mich berufen konnte, keinen Rückzugsort, der mich vor meinem Zweifel schützte. Deshalb war Andersons Anruf eine riesige Erleichterung – ich konnte meine Gedanken auf etwas anderes richten.
«Mir wäre lieber, du würdest diesem Jamie nicht so viel Vertrauen schenken», meinte er. «Meine Schwester hat mir die Interviews gezeigt, die letzte Woche gelaufen sind. Dieser Dreiteiler. Gibt es auf YouTube.»
Ich dachte darüber nach. «Vertrauen ist für mich im Augenblick ein sehr vager Begriff. Und hast du mir nicht außerdem mal gesagt, es sei wichtig, die Presse im Griff zu haben, damit es nicht andersherum ist?»
«Ah!» Er lachte. «Der Schüler ist zum Meister geworden. Wie in den Jet-Li-Filmen, die ich mir immer angesehen habe, wenn ich bekifft war.»
Hollywood , dachte ich, eine kurze Mahnung daran, wie verschieden unsere Welten waren.
Jamie lässt den Kopf ein wenig hängen, ein stummes Eingeständnis, dass er an Anderson nicht mehr herankommt. Der Star hat den Ort des Geschehens verlassen.
«Das habe ich denen auch schon gesagt. Aber ich konnte sie davon überzeugen, ernsthaft darüber nachzudenken, dich auch allein zu nehmen.»
«Weshalb?»
«Weshalb dich allein? Oder weshalb ich das getan habe?»
«Beides.»
«Die Antwort ist dieselbe», gibt er zurück. «Als ich mit der Idee zu ihnen kam, haben sie mir erzählt, einer ihrer Produzenten hätte einen thematischen Aufhänger. Alte Informationen über deinen Vater. Um die Geschichte noch spannender zu machen, die Dinge am Laufen zu halten, falls das Publikum das Interesse verliert.»
«Was für Informationen?» Ein Adrenalinschub, der sich in Form einer Frage Luft macht.
«Unklar», sagt Jamie. «Sie wollten die Karten nicht zu früh auf den Tisch legen.» Er zögert einen Augenblick. «Die Sache ist die, Nell. Du hast mich gebeten, alles herauszufinden, was ich kann. Und das tue ich. Ehrlich gesagt, kann es allerdings sein, dass diese Geschichte ohne Anderson und seine Prominenz schon bald ziemlich tot ist. Wenn es jedoch eine Chance gäbe, deinen Vater aufzutreiben …» Er verstummt, weil es unnötig ist, den Satz zu beenden.
Ich denke darüber nach: Klingt wie ein leichter Tausch, ein Selbstläufer.
«Aha. Das kommt also dabei raus, wenn ich einen Bauernjungen aus Iowa losschicke, um den großen Geheimnissen meines Lebens auf die Spur zu kommen.»
«Genau das», antwortet er.
«Die Chance, auf alles eine Antwort zu bekommen.»
«Und wer», sagt er, «würde für so eine Chance nicht Haus und Hof aufs Spiel setzen?»
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7
«Sweet Child o’ Mine»
Guns N’ Roses
***
Z wei Tage vor meiner geplanten Rückkehr nach Hause, zu meinem Ehemann, zu meinem alten – ganz neuen! – Leben, finden sich meine Mutter und Rory bei mir ein, um sich zu vergewissern, dass ich wirklich mit Peter, zu Peter, nach Hause zurückkehren möchte.
«Es ist deine Entscheidung», sagt meine Mutter, ohne einen Hehl daraus zu machen, was ihr das Liebste wäre. Dass für sie jetzt nur wichtig ist, nach vorne zu blicken und zu verzeihen. «Natürlich kannst du jederzeit gerne auch zu mir ziehen.»
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