Ein Sommer und ein Tag
umfängt mich – eine warme Umarmung, nachdem ich in den letzten vier Wochen zu viel Zeit drinnen verbracht habe, in einem Krankenhaus, das mich ständig daran erinnert hat, dass der Tod nie weit weg ist –, und ich atme sie tief ein. Ich spüre eine unerwartete Erleichterung anstatt des bedrohlichen Fremden, das ich befürchtet hatte. Ja. Es war klug, auf den Rat meiner Mutter zu hören, entgegen meinem ersten Impuls zu handeln und mich von ihr zu etwas Neuem leiten zu lassen.
Ich sehe über die Schulter zu ihr hoch, wie sie da steht in ihrem leuchtend türkisfarbenen Hawaii-Kleid, mit den riesigen Goldkreolen. Dann lasse ich den Blick weiterwandern zu Anderson. Sein Gesicht ist völlig verheilt; keine einzige Narbe, die verrät, was er durchgemacht hat. Nur etwas schmaler ist er geworden, und seine Wangenknochen zeichnen sich deutlich ab.
Ich bin zu Hause , denke ich, und vielleicht ist es tatsächlich gut.
Natürlich – und das kann ich nun mal erst im Nachhinein und mit zeitlichem Abstand betrachtet sagen – birgt der Vorsatz, alles zu verzeihen, ein Problem: Man vergisst, dass hinter der nächsten Ecke immer schon neuer, alter Ärger lauert.
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8
«Running on Empty»
Jackson Browne
***
U nsere Wohnung hat nichts mit den schicken Appartements aus Friends zu tun. Ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ich bin tatsächlich ein bisschen enttäuscht. Keine hohen Decken, kein skurriler Schnickschnack, kein umwerfender Balkon und auch kein schickes Wohnzimmer, in dem sich samstags die Freunde zum Spieleabend versammeln.
«Tja, da wären wir», sagt Peter und stellt meinen Koffer mit einem dumpfen Aufschlag neben sich ab. «Ich hoffe, also, hoffentlich entspricht es deinen Erwartungen. Das meiste hier geht auf dein Konto.»
«Es ist toll. Super!», antworte ich und betrete das (winzige!) Wohnzimmer, das nicht mal ein Viertel so groß ist wie das von Rachel und Monica. Den Rollstuhl lasse ich draußen auf dem Flur stehen – ich möchte ihn noch nicht einmal symbolisch über die Schwelle bringen. Das Versprechen eines neuen Ichs!
«Ach, die Einrichtung, das war ich?»
«Zum Großteil.» Er geht in die Küche, die eigentlich gar keine richtige Küche ist, eher ein vom Wohnzimmer abgetrennter Nebenraum mit ein paar mickrigen Elektrogeräten. Ich kann durch die Durchreiche zu ihm rübersehen. Er ist nervös – ich kenne ihn zwar nicht mehr so gut, aber das merke ich doch. Er hantiert in der Küche herum, öffnet den Kühlschrank, schließt ihn wieder, öffnet einen Schrank, schließt ihn wieder und entscheidet sich dann für einen riesigen Plastikbehälter mit Nüssen, der offen auf der Anrichte steht. Er schiebt sie zu mir rüber. «Hunger?»
Ich schüttle den Kopf und mache im Wohnzimmer die Runde. Die Gummisohlen meiner Turnschuhe quietschen auf dem Parkettboden.
«Es ist eigenartig. Diese Wohnung fühlt sich überhaupt nicht an, als wäre es meine. Dieser Teppich, zum Beispiel …» Ich fahre mit der Schuhspitze über den abgetretenen, aber immer noch schönen Orientteppich, der auf dem Holzfußboden liegt. «Dieser Teppich fühlt sich kein bisschen nach mir an!»
«Den hat uns deine Mutter geschenkt. Er stammt aus einem der alten Ateliers deines Vaters.»
Ich gehe behutsam in die Hocke und lasse die Finger über den Teppich gleiten, als könnte ich auf diese Weise womöglich etwas ertasten, etwas hören – nur was? Meinen Vater, der mir sagt, wer ich bin? Was mit ihm geschehen ist? Wieso er nicht mehr zu unserer Familie gehört? Ich habe meine Mutter zweimal um eine Erklärung gebeten, nicht nur dafür, weshalb er uns verlassen hat, sondern auch, weshalb sie mich in dem Glauben ließ, er wäre gestorben («Das war ein Missverständnis, Liebes! Ich sagte lediglich, dass wir ihn verloren haben!»), und ich habe genau gemerkt, wie sehr diese Diskussion sie schmerzt. «Außerdem», hat sie gesagt, «ist das doch nur eine dunkle Wolke in unserer Vergangenheit – es gibt so viele andere, schöne Momente. Lass es einstweilen gut sein.» Und das habe ich auch getan. Aber Jamies Kontakt bei American Profiles ist weiter an der Sache dran, und Jamie versichert mir jedes Mal, wenn ich ihn frage – und das tue ich oft –, dass wir bald mehr wissen werden.
Ich stehe so schwungvoll auf, wie mein Körper – geschwächt von einem Monat fast vollständiger Untätigkeit – es zulässt, und meiner Hüfte entfährt ein vernehmliches Knacksen. «Au! Scheiße!»
Peter ist schnell wie der
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