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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Iowa.»
    «Mach dir nicht so viele Sorgen, aber ein Schluck Mineralwasser wäre nett.» Ich höre, wie er den Kühlschrank aufmacht und die Flasche aufschraubt, dann das Knacken von Eiswürfeln, als er das Wasser einschenkt. Ich stehe auf und gehe ans Klavier. Hebe den Deckel, drücke zögerlich eine Taste, dann noch eine. Meine Finger finden von selbst eine Tonleiter, als wüssten sie genau, was sie tun. Ich drehe mich zu Peter um.
    Er stellt das Wasser auf den Couchtisch und setzt sich umständlich wieder hin. Erneut entsteht eine Pause. Wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen. Ich denke darüber nach, ob ich ihn noch mal nach Ginger fragen soll, doch ich beschließe, dass mein neues Ich keine weiteren Beschwichtigungen bräuchte. Sie würde einfach nur ihr (bezauberndes) Haar in den Nacken werfen und leichthin und voller Selbstvertrauen lachen, weil Peter ihr – so wie er es vor ein paar Tagen tatsächlich getan hat, als er abends von der Arbeit aus im Krankenhaus anrief – gesagt hat, er hätte es endgültig und ein für alle Mal beendet (was mein neues Ich kurz stocken ließ, weil mein altes Ich schließlich dachte, das hätte er schon vor Monaten getan), und dann würde sie einen Weg finden, die Sache endgültig zu vergessen. Der Prozess des Verzeihens würde, wie meine Mutter meint, mit der Zeit immer weiter voranschreiten, und was ich im Augenblick bräuchte, wäre deswegen Zeit und kein ständiges Wiederkäuen.
    «Ich könnte uns was vom Chinesen holen», schlägt Peter vor. Er steht abrupt auf, weil keiner von uns weiß, wie er dem Schweigen ein Ende bereiten soll. «Dann hast du ein bisschen Zeit, anzukommen und dich zu Hause zu fühlen, ohne dass ich dich die ganze Zeit belagere.»
    «Ich habe nicht das Gefühl, von dir belagert zu werden.»
    «Trotzdem. Ich besorge uns was zu essen.» Er nimmt seinen Geldbeutel von der Küchenanrichte. «Keine Angst. Ich weiß, was du magst.»
    «Okay», sage ich, obwohl ich keinen Hunger habe. Ich frage mich, ob ich immer noch mag, was ich mal mochte, aber ich sage nichts.
    Er saust davon, in Windeseile, wie ein Hund, der von der Leine gelassen wird. Ich beobachte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, und Erleichterung durchflutet mich wie eine Welle. Ich stehe auf und beschnuppere aufs Neue meine Wohnung, lasse die Finger über das Kaminsims gleiten, trete zurück und nehme das Bücherregal in Augenschein. Schließlich schalte ich die Stereoanlage ein, um die Stille zu vertreiben.
    Ich betrete zögernd das Schlafzimmer. Ein Nachttisch – seiner vermutlich – ist bis auf eine gläserne Lampe leer. Auf dem anderen stehen neben einem Stapel New Yorker ein paar Bilderrahmen, von einer feinen Staubschicht überzogen. Die Wände sind in einem kühlen, aber freundlichen Gelb gehalten, und die einzige Dekoration ist ein großer Spiegel über dem Sekretär, gegenüber vom Bett. In einer Ecke des Spiegels erhasche ich einen Blick auf mich selbst: Zerbrechlich, hat Rory mich vor ein paar Wochen genannt, und genau so sehe ich aus. Winzig. Wie eine vertrocknete Pflaume komme ich mir vor. Wie ein altes, verdörrtes Stück Obst. Meine Gliedmaßen sehen aus, als könnte man sie mit bloßen Händen durchbrechen, meine Muskeln sind schlaff, meine Haare sind strohig und eine einzige Katastrophe, mit einem Ansatz, der das Dunkelbraun meiner Kindheit verrät, was mir allerdings auch nur von Fotos bekannt ist.
    Ich lege mich aufs Bett, rolle auf den Rücken und starre an die Decke. Dann schiebe ich mir ein Kissen mit Angorabezug in den Nacken, doch es ist weniger gemütlich als erwartet und kratzt am Hals. Ich zerre es wieder heraus und werfe es auf den Boden. Aus den Lautsprechern im Wohnzimmer dringt ein Lied durch die geöffnete Schlafzimmertür, und ich summe mit. Jackson Browne, den Song kenne ich von meinem iPod, er gehört zu The Best of Nell Slattery. Ich spüre die Melodie in meinem Brustkorb pulsieren, hinter meinen Augen, in meinem Herzen.
    Ich atme aus, drehe mich um und stütze mich auf die Ellbogen, und dann trifft es mich – ein winziger Splitter von etwas, etwas Flüchtigem, aber Echtem –: ein warmer Abend, Gras kitzelt an meinen Beinen, ein kleines Mädchen kichert neben mir, und über mir wölbt sich der unendliche Sternenhimmel.
    Denk nach, verdammt noch mal! Nell! Denk nach!
    Ich versuche, in Regionen meines Bewusstseins vorzudringen, zu denen ich vielleicht gar keinen Zugang habe. Ich zermartere mir das Hirn, dehne es, biege es, ich presse die Augen

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