Ein Sommer und ein Tag
dann begutachte ich prüfend das Mobiliar meines früheren Lebens. Ein gusseiserner Schreibtisch – nüchtern, alt und modern zugleich. In der linken Ecke liegt ein ordentlicher Stapel Unterlagen, mit Sicherheit Verträge, und neben dem Drucker ein unordentlicher Stapel Post. Das ist bestimmt der sogenannte KoA-Haufen – unerbetene Zusendungen von Künstlern, die aus irgendeinem Grund der Meinung sind, Rory und ich könnten ihr Schicksal verändern, ihnen Platz an unseren Wänden bieten und damit positiv ihre Zukunft beeinflussen.
Ich blättere in dem Tischkalender vor mir.
Sechs Wochen zurück, da steht es: San Francisco. Hope Kingsley .
In der folgenden Woche ein gekritzelter Eintrag: 9. Woche. Ultraschall.
Meine Brust zieht sich vor Trauer zusammen; Trauer, von der ich noch eben nicht ahnte, dass ich sie in mir trage. Hier steht es. Schwarz auf weiß. Dieses verlorene Kind ist wie ein Phantom, etwas, das ich niemals besaß, niemals in meinen Armen hielt, an das ich verdammt noch mal keine einzige beschissene Erinnerung habe, und doch verfolgt es mich, sobald ich es zulasse. Nur weil ich mich – wie an fast alles andere – nicht daran erinnere, heißt das nicht, dass es mir nicht weh tun kann. Denn jetzt, wo ich den Beweis schwarz auf weiß vor Augen habe, fühle ich mich ausgeweidet, leer und beraubt. Ich möchte in die dunklen Ecken meines Gehirns greifen können und die Antworten ans Licht zerren: Was hatte ich vor? Was hatten wir vor? Das Klischee bedienen und hoffen, ein Kind könnte unsere Beziehung reparieren? Alleinerziehende Mutter sein? Es abtreiben lassen?
Peter hat angedeutet, dass wir uns wieder angenähert hätten, dass ich vorhatte, ihm zu verzeihen. Aber eine nagende Stimme in mir fragt sich, wie viel davon wahr ist. Heute bin ich vielleicht dazu in der Lage, ihm zu verzeihen – ohne Gedächtnis, ohne jede Erinnerung an das verletzende Ausmaß seines Betruges. Aber damals? Wirklich? War ich dazu in der Lage? Ihm voll und ganz zu verzeihen? Seufzend frage ich mich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielt, was ich vorher vorhatte. Ich blättere ein paar Wochen in dem Kalender vor und zurück, um nachzusehen, was es dort sonst noch gibt, welche Brotkrumen ich noch für mich ausgestreut habe.
Der Kalender ist fast leer, aber dann. Da ist es: etwas. Etwas Kleines, und wer weiß, ob es überhaupt irgendetwas ist. Sicher eine Sackgasse. Aber ich merke es mir trotzdem. Tina Marquis. 11 Uhr . Sechzehn Zeichen, völlig bedeutungslos für mich.
Peter steckt den Kopf zur Tür rein und erlöst mich.
«Hey! Alles in Ordnung?»
Ich befühle mein Kleid. Es ist immer noch feucht und sieht aus wie rot marmoriert, aber es ist wieder einigermaßen repräsentabel. Der Fleck sieht fast aus wie beabsichtigt.
«Mir geht es gut.» Ich stehe auf, greife nach seiner ausgestreckten Hand und begebe mich zögernd zurück zur jubelnden Menge.
Drei Stunden später haben sich die Gäste verlaufen, sind in die warme New Yorker Nacht verschwunden, und ich kann mich vor Müdigkeit kaum noch bewegen. Im Ernst. Ich bin so müde, dass ich keine Ahnung habe, wie ich es nach Hause schaffen soll. Obwohl Peter mich natürlich begleitet, überfordert mich schon die Vorstellung, bis zum Auto laufen zu müssen.
«Das war zu viel für sie!», zischt meine Mutter Rory an, so als wäre ich gar nicht da, als würde ich nicht bestens hören, was sie sagt.
«Du hattest doch überhaupt erst die Idee!», keift Rory zurück. Ich wünschte, sie würden beide die Klappe halten und mich einfach hier schlafen lassen, auf der Bank, direkt unter Stillleben mit Violettem Stuhl von Antonio Molinero, einem Künstler, den Rory letztes Jahr in Barcelona entdeckt hat. Das grelle Licht der nüchternen Galerie sticht mir in die Augen: zu viel Weiß, zu viel Helligkeit, alles nur Kontraste und Glanz. Es ist hip, es ist fabelhaft, und ich kann es keine Sekunde länger ertragen. Hätte ich auch nur noch einen einzigen Funken Energie in mir, würde ich sie darauf verwenden, mein altes Ich von meinem neuen Ich dafür schelten zu lassen, dass es seine Versprechen so schnell bricht. Stattdessen lege ich mich rücklings auf eine Kunstglasbank und werfe dabei versehentlich ein abgestelltes Plastikweinglas um.
«Ich bin hier! Direkt vor euch. Ihr könnt also aufhören, euch so zu benehmen, als wäre ich nicht da!», beschwere ich mich.
«Ja, natürlich bist du da, Liebes. Wir versuchen nur, zu entscheiden, was das Beste für dich ist», sagt meine Mutter
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