Ein Sommer und ein Tag
versuche, meine Gedanken zu sortieren, hat Anderson sich bereits zu der Reporterin umgedreht und tritt direkt vor ihr Mikrophon. «Hör zu, Paige, halt dich zurück. Halt dich zurück! Sie hat überhaupt keinen Grund, irgendwas zu bestätigen. Also lass sie in Ruhe.»
Mit zwei Schritten ist er wieder an meiner Seite, und ich betrachte mit schief gelegtem Kopf die skurrile Situation: die Paparazzi, die Party und mittendrin Anderson, jüngst aus der B- in die A-Liga aufgestiegener Schauspieler, der mir zur Seite springt.
«Schön, dich wiederzusehen, Anderson!», ruft die Frau ihm nach.
«Kennst du sie?», frage ich ihn.
«Da war mal was», sagt er, ohne weiter darauf einzugehen, und ich lasse es dabei bewenden.
«Muss ich mir Sorgen machen, weil es inzwischen ‹Quellen› über mich gibt?»
«Das reservieren sie für die ganz besonders wichtigen Menschen.» Er lächelt.
«Ha, ha!» Ich lächle zurück.
«Nein, ich habe das auch gerade erst durchgemacht – vorher, meine ich. Und wenn ich jetzt der Frau helfen kann, die mir das Leben gerettet hat …» Er hält mir die Tür auf, und ich quetsche mich hinein. Wir mustern stumm den Raum, schätzen ab, was uns erwartet, ein Augenblick des Friedens, ehe wir von der Party verschluckt werden.
«Bleib in der Nähe», sage ich schließlich. «Keine Ahnung, was das alles für Geister sind und was sie so heraufbeschwören werden.»
Er fasst mich am Ellbogen. «Keine Angst», sagt er. «Ich gehe nirgendwohin.»
Anfangs scheint die Party eine geniale Idee zu sein. Mein neues Ich stimmt zu. Die Techno-Musik hat genau die richtige Lautstärke – laut genug, um der Energie den benötigten Schwung zu verleihen, und leise genug, um alles mitzubekommen, was um mich herum geschieht: die allgemeinen Ermutigungen, das erneute Kennenlernen und die gelegentlich auftretenden Verlegenheitspausen, weil es für eine Freundin, die dem Tod getrotzt und dabei – fast wörtlich – den Verstand verloren hat, keine passenden Glückwunschkarten gibt.
Trotzdem fühlt es sich gut an, wohltuend, fast herzerwärmend , hier zu sein. Nachdem eine Schar Freundinnen vom College wieder abgezogen ist, drückt Rory mir ein Glas Mineralwasser in die Hand. Ich kenne all ihre Gesichter aus meinen Fotoalben: wir aneinandergepresst, übervolle Plastikbecher mit Bier in den Händen, in irgendeinem Wohnheimkeller – Golf Night! –, die Wangen glänzend vor Schweiß, die BH-Träger unter den Tops verrutscht. Heute Abend haben sie mich umarmt, mir den Rücken getätschelt, und alle haben ihre Handys hervorgeholt, um sich zu einem Mädelsabend zu verabreden. Etwas, was wir wohl früher immer getan haben, falls wir zufällig alle mal gleichzeitig am selben Ort waren, und was, wie Samantha mir erzählte, viel zu selten der Fall war.
«Wir hatten alle zu viel zu tun», sagte sie, als müsste man sich dafür entschuldigen. «Du warst immer hier, in der Galerie. Ich bin meistens in London oder Hongkong; die Mütter hatten ständig Probleme, einen Babysitter zu finden.» Ich hatte das Gefühl, sie fängt gleich an zu weinen. Himmel! Fang jetzt bitte nicht an zu heulen! Ich würde mir wirklich dringend wünschen, dass die Leute um mich herum endlich mit der Heulerei aufhören! Aber sie riss sich zusammen. «So weit lassen wir es nicht wieder kommen, okay?» Sie griff nach meiner Hand. «Diesmal machen wir es besser.»
Also zogen wir alle unsere Telefone heraus und versprachen uns, es diesmal besser zu machen. Ich habe meine Zweifel. Alte Muster, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr und so weiter. Bis ich mich dabei ertappe, dass ich gerade in mein altes Ich zurückfalle. Nein, nein, nein! Diesmal wird es anders, diesmal muss es anders werden.
«Ich kann mich zwar an niemanden erinnern», sage ich zu Rory, als sie mir das Mineralwasser bringt, «aber es ist trotzdem schön zu wissen, dass ich so geliebt worden bin, dass diese Leute alle mein Fallschirm sein können.»
«Ach du meine Güte! Hast du etwa zu viel Oprah gesehen? Früher wäre dir so was nie über die Lippen gekommen.» Falls es möglich ist, mit den Augen zu rollen, wobei sie gleichzeitig vor Überraschung fast aus dem Kopf fallen, dann ist Rory dieses Kunststück gerade gelungen.
«Na ja. Früher konnte ich mich auch an jeden erinnern.»
«Nein. Ich meine das mit dem Geliebtwerden. Und das mit dem Fallschirm.» Sie schüttelt den Kopf, besinnt sich aber und schluckt den sarkastischen Spott hinunter, der ihr offensichtlich auf
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