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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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wenn das bedeutet, dass wir meine Mutter und Tate ertragen müssen.
    Meine Mutter hat recht, was meine sogenannte Erinnerung an das Haus betrifft: Es gibt weder eine umlaufende Veranda noch Laternen an der Haustür. Aber es gibt eine große Wiese, und ich finde es durchaus plausibel, dass zwar Teile meiner Erinnerung durcheinandergeraten sind, andere Teile dafür jedoch der Realität entsprechen. Ein Spätsommerabend im Gras mit meiner Schwester. Warum nicht?
    Jamie schläft im Gästehaus hinten im Garten, während ich in meinem alten Kinderzimmer untergebracht bin und Peter in Rorys. Meine Mutter wuselt um uns herum wie ein Wirbelwind. Gerade sie sollte eigentlich in der Lage sein, ihre Nervosität im Zaum zu halten und nicht alle damit anzustecken, aber sie kann einfach nicht anders. Beruhig dich endlich, verdammt noch mal! , würde ich ihr am liebsten ins Gesicht schreien, wer redet denn hier ständig von Energieübertragung und Zen-Meditation und bla, bla, bla – gerade sie müsste doch wissen, wie angespannt wir alle sind –, doch ich reiße mich zusammen und halte den Mund. Vielleicht will mich ihre Freundlichkeit, ihre großzügige Art ja etwas lehren, auch wenn diese Art mich gerade an den Rand des Wahnsinns treibt. Irgendwann schaltet sie im Wohnzimmer die Stereoanlage ein, und als beschwingte klassische Musik den Raum durchdringt, scheint sie endlich ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Die Entspannung ist beinahe mit Händen greifbar. Ich stehe im Türrahmen und beobachte sie. Als sie mich sieht, sagt sie: «Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich völlig irre bin. Musik hilft.»
    Sie tritt zu mir und küsst mich auf den Scheitel. «Das hast du von mir, weißt du? Alle Welt behauptet ständig, du hättest deine Liebe zur Musik von deinem Vater geerbt, dabei hast du sie von mir. Er konnte nicht einen einzigen Ton halten.»
    «Bitte entschuldigen Sie den Zustand des Gästehauses», wendet sie sich an Jamie, als wir dort ankommen und er seine Tasche auf dem knarrenden Dielenboden abstellt. «Ich habe zwar geputzt, aber es modert immer noch ein bisschen. Hier haben seit Jahren keine Gäste mehr übernachtet. Aber dieses Wochenende ist das Haus bis unters Dach voll. Es geht leider nicht anders.»
    Rory und Hugh kommen heute Nachmittag mit dem Zug nach, und da Peter und ich noch immer in getrennten Betten schlafen, müssen sie auf das Gästezimmer im zweiten Stock ausweichen. Das Haus selbst ist riesig – viel zu groß für meine Mutter allein –, aber sie hat schon vor Jahren sämtliche überflüssigen Möbel rausgeworfen und sich ihr Yogazimmer, ihr Handarbeitszimmer, ihr ‹Zimmer der Stille›, eingerichtet, in dem Tate seine Gedichte schreibt und wo so gut wie nie ein Wort gesprochen wird. «Manchmal», flüsterte sie mir bei einem Rundgang durchs Haus verstohlen zu, «lieben wir uns hier, auch in Stille.»
    Mit meinem alten Zimmer verhält es sich genau wie mit unserer Wohnung: So hätte ich es mir nie im Leben vorgestellt. Wo sind die Poster, wo sind meine Teenie-Schwärme? Wo sind die alten Schallplatten und die Schubladen voller Briefe an Freundinnen aus dem Sommerlager? Statt all dieser Dinge gibt es eine Vitrine voller Tennispokale, ein Bücherregal, das bis unter die Decke reicht und vollgestopft ist mit zerfledderten Gitarrennoten und alten Schulbüchern – Physik, Biologie, Französisch, europäische Kunstgeschichte –, einem leeren weißen Schreibtisch und einem Rattanschaukelstuhl mit ausgeblichenen Blümchenkissen, der eher in ein Altersheim gepasst hätte. Wenn man sich hier umsieht – als Detektiv, der nach dem Mädchen sucht, das ich war, als ich hier aufwuchs –, findet man keine Spuren meiner Persönlichkeit: Mein Teenager-Ich ist eine leere Tafel, eine unbemalte Leinwand. Ein mitleidiger Stich aus Traurigkeit durchfährt mich. Ihretwegen. Meinetwegen.
    Ich setze mich aufs Bett und atme behutsam durch den Schmerz in meinen Rippen hindurch. Sieben Wochen nach dem Absturz tut mir eigentlich so gut wie nichts mehr weh. Nur ab und zu, wenn ich mir zu viel zumute, melden die Schmerzen sich zurück – eine Mahnung daran, dass ich nicht mehr bin, wer ich war: schwächer, zerbrechlicher. Aber es könnte auch alles viel schlimmer sein – es könnte so sein wie bei Anderson: die Katastrophe ständig präsent, allgegenwärtig, unbezähmbar.
    Peter klopft an die Tür.
    «Ich springe in den Pool. Kommst du mit?»
    «Gleich», antworte ich.
    Ich lege mich auf das Bett mit der

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