Ein Sommer und ein Tag
solchem Kram beschäftigen könnte.»
Ich strecke den Arm aus und drücke seine Hand.
«Was das Schlussmachen und Abschleppen betrifft, machst du dich immer noch sehr gut.»
Er wehrt sich nicht gegen den Seitenhieb. «Balsam für die Wunden.»
«Zusätzlich zu den Medikamenten.»
«Zusätzlich zu den Medikamenten.» Er lächelt. «Kann nicht schaden.»
«Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen.»
«So in etwa.»
«Habe ich dir eigentlich schon erzählt» – ich lasse seine Hand los –, «dass ich mich erinnert habe?» Er macht große Augen und rülpst statt einer Antwort in die Hand. «Es war fast wie ein Traum, aber es war keiner. Auch wenn ich mich im Grunde nicht wirklich an etwas erinnern kann und auch wenn meine Mutter und meine Schwester daran zweifeln, weiß ich, dass es passiert ist. Sagt zumindest meine Therapeutin.»
«Das ist mein neuer Lieblingsspruch», sagt er. «‹Sagt zumindest mein Therapeut.› Er ist der einzige Mensch, dem ich noch vertraue.»
«Mich hast du auch noch», wende ich ein und lehne den Kopf an seine Schulter.
«Dich habe ich auch noch. Das stimmt. Die Frau, die mir das Leben gerettet hat. Aber du bist genauso im Arsch wie ich.»
Wir müssen beide lachen, und ich richte mich wieder auf.
«Wie dem auch sei. Ich habe etwas gesehen. Etwas Reales. Ich weiß nur noch nicht, was es bedeutet.»
«Unsere Gehirne sind seltsame Biester.»
«Sehr hilfreich.»
«Entschuldige», sagt er. «Zu schauspielermäßig. Igitt, in was für ein Klischee ich mich verwandelt habe! Dabei gebe ich mir solche Mühe, genau das zu vermeiden – zum Klischee zu werden, meine ich.»
«Betrunken durch die Gegend zu stolpern widerspricht auch nicht unbedingt dem Klischee.»
«Ich weiß.» Er lässt den Kopf hängen. «Sagt mein Therapeut auch.»
Er hält inne. «Da! Schon wieder.»
Wir verstummen.
«Ach, es gibt gute Nachrichten!», sagt er schließlich. «Der ganze Trubel hat in Hollywood offensichtlich meine Aktien in die Höhe getrieben.»
«Ha, ha!»
«Mir ist ein Spielberg-Film angeboten worden. Die Dreharbeiten beginnen direkt nach Thanksgiving in North Carolina. Wenn ich zusage.»
«Wenn du zusagst? Du kannst zu Spielberg doch nicht nein sagen!»
Er zuckt mit den Achseln. «Wie gesagt, ich bin gerade dabei, meine Prioritäten neu zu ordnen.»
«Du kannst doch wegen dieser einen schrecklichen Sache, die uns passiert ist, nicht dein ganzes Leben aufgeben, Anderson. Ich dachte, der einzige Sinn unseres Überlebens wäre, dass wir eine zweite Chance bekommen, eine Chance, das Leben zu leben, für das wir bestimmt sind.»
Ich muss an das Versprechen denken, das ich meinem neuen Ich gegeben habe. Geht es nicht genau darum? Ist nicht genau das der ganze Sinn und Zweck?
«Ja eben!», sagt er und klatscht in die Hände. «Was, wenn das hier gar nicht das Leben ist, für das ich bestimmt bin? Ich meine, die ganze Schauspielerei ist so oberflächlich – ich verkleide mich und sage irgendwelche Texte auf.»
«Macht dir das denn keinen Spaß?»
«Manchmal», sagt er. «Manchmal ist es einfach nur Alltag.»
An einer Ampel muss der Wagen scharf abbremsen, und wir greifen beide – viel zu fest – den anderen am Handgelenk. Als wir einander schließlich wieder loslassen, spürt er den Griff meiner Hand bestimmt genauso wie ich seinen. Mich an ihm festzuhalten gibt mir immer wieder ein Gefühl der Sicherheit, als würde ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren. Er nennt mich die Frau, die ihm das Leben gerettet hat. Aber was, wenn er vielmehr der einzige Mensch ist, der mich versteht, der mein Leben retten kann? Ich schüttle den Gedanken ab. Nein. Peter gibt es auch noch.
«Traumatische Flashbacks», sagt er, als der Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hat. «Daran können auch Therapie und Medikamente nichts ändern. Die traumatischen Flashbacks wird es immer geben.»
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«Every Breath You Take»
The Police
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J amie, Peter und ich machen uns auf den Weg zu einem Wochenendbesuch bei meiner Mutter in Bedford. Jamie ist mit dabei, weil wir mit American Profiles vorankommen und hier erste Hintergrundrecherchen machen möchten. Sie haben gestern das Exklusivporträt angekündigt. Seite Sechs hat heute Morgen mit der passenden Schlagzeile reagiert: «Wow, Nelly!» Ich musste richtig lachen, als Anderson mich anrief, um mir davon zu erzählen. Peter ist mit dabei, weil, na ja, weil uns ein Wochenende mal rauskommen sicher ganz gut tut, auch
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