Ein Sommer und ein Tag
der Zunge liegt. «Egal. Klingt jedenfalls schön.» Sie umarmt mich, und der Duft ihrer Haare erinnert mich wieder an dieses winzige Gedächtnisfragment: die traumhafte Erinnerung, die ich auf meinem Bett liegend hatte, in der es im Grunde um gar nichts ging. Geißblatt. Sie duftet nach Geißblatt. Es ist nichts als ein Splitter, ein flüchtiger Funken der Erinnerung, den ich aus der Tiefe meines Inneren heraufbeschworen habe. Egal, was Liv sagt. Niemand kann es mir bestätigen. Und wenn es niemanden gibt, der einem die Erinnerung bestätigt, woher soll man dann wissen, dass sie tatsächlich jemals stattgefunden hat?
Wir werden von Jamie unterbrochen. Er nimmt mich am Arm und zieht mich in eine Ecke, neben eine schlanke zylindrische Skulptur, die mich an einen Penis erinnert und von der Rory behauptet, sie würde für fast zwanzig Riesen gehandelt werden. Dahinter steht Anderson etwas zu dicht bei drei Frauen, alle dürr, mit schwarzen Lidstrichen, hohen Absätzen und offensichtlich aus der Kunstwelt.
«American Profiles!» , sagt Jamie mit hochrotem Kopf. «Sie haben ja gesagt!» Er strahlt. Es fehlt nicht viel, und er würde abheben vor Aufregung. «Ich habe es eben erfahren. Und ihr Verbindungsmann – er hatte Erfolg. Teilweise zumindest.»
«Was? Du hast meinen Vater gefunden?» Ich muss mich gegen die Wand lehnen.
«Nein, nicht direkt. So einfach ist es nicht.» Er lässt den Blick über die Menge schweifen. «Aber die Produzentin hat mit dem besten Freund deines Vaters telefoniert. Er ist heute hier. Oder er kommt noch.»
«Was? Er kommt heute Abend hierher?» Meine Nerven fangen an zu flattern.
«Ich dachte, das wäre in deinem Sinne. Sie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um es zu ermöglichen.»
«Nein, nein» – ich winke ab –, «schon. Ich habe es … ich habe einfach nicht damit gerechnet. Es gibt so viele Fragen.»
«Ich weiß», setzt er an, doch dann sieht er, wie ihm aus der Menge jemand zuwinkt. «Bin gleich wieder da. Keine Sorge. Ich will nur schnell mit dieser Autorin sprechen, solange sie noch hier ist. Halte nach ihm Ausschau.» Und schon hat ihn die Gästeschar mit ihren Weingläsern, Käsehäppchen und gekühlten roten Weintrauben wieder verschluckt.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen, halte Ausschau, bis ich ihn sehe. Besser gesagt, bis er mich sieht, denn er wäre mir gar nicht aufgefallen. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge und kommt auf mich zu. Er ist älter, ungefähr im Alter meines Vaters, aber immer noch gutaussehend, mit gewelltem, jugendlich blondem Haar und Fältchen in den Augenwinkeln, die aussehen, als hätte er sie aufrichtig erworben. Für einen Mann, dem ich noch nie begegnet bin, nimmt er mich zu fest in den Arm, und nach zwei klaustrophobischen Sekunden gelingt es mir, ihm die Hände auf die Schultern zu legen und möglichst höflich ein wenig Raum zwischen uns zu bringen.
«Es tut mir leid», sage ich. «Ich kann mich nicht an Sie erinnern!» Es klingt unhöflicher als beabsichtigt, und ich bin mir nicht sicher, ob mir meine Schroffheit peinlich ist oder nicht. Wäre mir so etwas peinlich? So barsch und direkt zu sein? Meinem alten Ich wahrscheinlich nicht. Nein, diese Schroffheit war nach allem, was ich so höre, ein bezeichnender Charakterzug von mir.
Er nimmt es mir nicht übel und lächelt mich stattdessen strahlend an.
«Wie ich sehe, bist du immer noch ganz die Tochter deines Vaters. Schonungslos offen. Das würde ihm gefallen.»
«Das freut mich», beteuere ich, weil es mir angemessen erscheint.
«Ich bin Jasper Aarons», stellt er sich vor. «Der älteste Freund deines Vaters.» Er lacht. «Und wenn man mich so ansieht, könnte man meinen, der älteste Freund überhaupt.»
«Ach ja. Man hat mir schon gesagt, dass Sie vielleicht kommen würden. American Profiles .» Hinter Jaspers linker Schulter entdecke ich meine Mutter. Sie versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie zu uns rüberstarrt. Er dreht sich zu ihr um, fängt ihren Blick auf und deutet ein lässiges Winken an. Meine Mutter stutzt und stolpert davon.
« American Profiles hin oder her, es ist mir eine Ehre. Ein Privileg», wendet er sich wieder an mich.
Ich nicke, weil auch das mir angemessen scheint.
«Ich habe sehr viele Fragen», stottere ich.
«Und ich werde mit Freuden mein Bestes geben, sie zu beantworten.»
«Habe ich Sie gekannt … vorher, meine ich? Aus meiner Kindheit?»
«Du würdest dich nicht an mich erinnern. Wir haben uns viele, viele Jahre nicht
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