Ein Sommer und ein Tag
gesehen.» Er unterbricht sich, um nachzudenken. «Wahrscheinlich seit dem Sommer nicht mehr, in dem er gegangen ist. Himmel!» Er wird blass. «Kann das wirklich so lange her sein?» Einen Moment lang wirkt er abwesend, weit weg, an einem Ort, den nur er kennt.
«Aber egal, wie lange das auch her sein mag, als Nancy mich anrief – eine liebe, alte Freundin, die inzwischen für American Profiles arbeitet –, da hatte ich sofort das Bedürfnis, heute Abend herzukommen und dir zu erzählen, wie viel du ihm bedeutet hast. Er wäre am Boden zerstört, wenn er wüsste, dass du dich nicht an ihn erinnern kannst, nicht an die Kindheit, die du mit ihm verbracht hast, und … obwohl ich mein damaliges Versprechen an deinen Vater, auf dich aufzupassen, wohl nicht gehalten habe, wollte ich herkommen und dich das wissen lassen.»
Er rückt sich die Brille zurecht, und ich sehe, wie unglaublich grün seine Augen sind. Ich kann mir vorstellen, wie umwerfend er vor dreißig Jahren gewesen sein muss. Er ist Künstler, das sagen mir seine zerfurchten Hände und die geerdete Ausstrahlung. Ich sehe förmlich vor mir, wie er und mein Vater die Welt erstrahlen ließen. Ein eifersüchtiger Stich durchfährt mich, als ich mir ihre Unverfrorenheit, ihre Großartigkeit vorstelle.
«Danke, ich meine, offensichtlich weiß ich überhaupt nicht mehr viel», sage ich, ehe mir die Bedeutung seiner Worte aufgeht. «Dann wussten Sie also, dass er gehen würde? Uns … verlassen würde? Sie sind der Erste, der bereit ist, das offen auszusprechen.»
Er räuspert sich. «Ich würde nicht sagen, dass ich es wusste … jedenfalls nicht sicher. Aber unterschwellig habe ich es wohl geahnt. Er … er hat sehr mit sich gerungen. So lässt es sich wohl am besten ausdrücken. Er hat sehr lange mit dem starren Korsett der Konventionen gekämpft, in das er sich gezwängt sah …»
«Korsett der Konventionen?», unterbreche ich ihn. «Welche denn? Die des Gesetzes oder die des Lebens mit meiner Mutter, der Ehe?»
«Letzteres.» Er lächelt, und ich zwinge mich dazu, sein Lächeln zu erwidern, obwohl ich an der Sache nichts Komisches finden kann. «Es hat ihn kaputtgemacht. Die konventionelle Gesellschaft , sagte er immer. Manche Männer sind einfach nicht dafür gemacht. Und dann auch noch der Ruhm» – er lässt eine Hand fallen –, «ich hatte den Verdacht, dass es einfach zu viel für ihn war. Und als er Andeutungen machte, dass er überlege – na ja – zu gehen , habe ich nicht weiter nachgebohrt, weil ich nicht sicher war, ob er von dieser Erde oder nur weg von seinem gegenwärtigen Leben meinte.»
«Dann glauben Sie, er hätte sich vielleicht umbringen wollen?» Mir schnürt es förmlich die Kehle zu, eine intuitive emotionale Reaktion auf gespeicherte Erinnerungen, die sich nicht abrufen lassen.
Er zuckt mit den Schultern und setzt zu einer Antwort an, doch im selben Augenblick rempelt meine Mutter mich an und schüttet mir ihr Glas Rotwein über mein blassgraues Kleid.
«Ach du Scheiße!», rutscht uns gleichzeitig heraus. Jasper packt sie am Arm, doch sie macht sich los, ignoriert ihn absichtlich.
«Hallo, Indira», sagt er. «Wie schön, dich zu sehen!»
Sie hebt den Blick, als hätte sie ihn bis jetzt überhaupt nicht bemerkt, und veranstaltet ein Riesentheater um ihre gespielte Überraschung.
«Oh, Jasper! Jasper Aarons, ich habe dich gar nicht erkannt! Ist das lange her!»
Nicht mal sie selbst glaubt an ihre Scharade. Jasper zwinkert, um die Spannung zu lösen, und nimmt einem vorbeigehenden Kellner ein paar Papierservietten vom Tablett. Ich tupfe ein wenig an dem Fleck herum, aber dann entschuldige ich mich doch lieber, bevor ich auf meiner eigenen Willkommensparty aussehe wie ein Schussopfer.
«Bitte, glaub mir. Er würde wollen, dass du dein Leben weiterlebst, dass du glücklich bist», sagt Jasper noch, ehe ich mich ins Büro zurückziehe, um zu retten, was zu retten ist. «Er würde wollen, dass du weißt, wie sehr er dich geliebt hat. Ich weiß, dass du dich nicht daran erinnern kannst, aber bitte versuch, es nicht zu vergessen!»
Ein paar Minuten später lasse ich mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen, während ich versuche, mein Kleid mit Papierhandtüchern abzutupfen. Ich habe mir von der Bar eine Flasche Mineralwasser geholt und mich nach hinten in mein altes Büro verkrochen, weg von dem Gewusel vorne in der Galerie. Der Stuhl knarrt vernehmlich, als ich mich setze – Willkommen zurück! –, und
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