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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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sich mit einem Knarren, und kleine Staubwolken steigen auf. Hier hat seit Jahren niemand mehr seine Nase hineingesteckt.
    Ich spähe in den Schrank. Selbst im Halbdunkel kann ich die übereinandergestapelten Leinwände sehen.
    «Sind die von meinem Vater?»
    «Von dir», sagt er. «Ich wollte meine Hemden aufhängen, und da ist mir das entgegengekommen.» Er geht in die Hocke. «Schau, unten hast du sie signiert.»
    Weil ich mich nicht so gut bücken kann wie er, reicht er mir das erste Blatt nach oben.
    «Meine eigenen Sachen habe ich bisher noch gar nicht gesehen.» Ich runzle die Stirn. «Kein Meisterwerk, aber auch nicht schlecht. Trotzdem Welten von meinem Vater entfernt.»
    «Wer sagt denn, dass du dein Vater sein musst? Ich meine, ich bin zwar kein Experte auf dem Gebiet, aber für ein Kind. Schau mal, es ist datiert – du warst gerade mal dreizehn! Also ich würde sagen, das ist ziemlich gut.»
    Er hat recht: die Art, wie ich die Farben gemischt habe, wie ich den Reflex an den Horizont und die Schatten der wogenden Hügel in weite Ferne gesetzt habe und wie eine schlichte Zickzacklinie ein paar Nadelbäume andeutet. Man sieht, dass ich von einem der Besten unterrichtet wurde, auch wenn es nur ein Landschaftsbild ist.
    Jamie will das Bild gerade zurücklegen, als unsere Blicke gleichzeitig auf das dahinter fallen.
    Mir stockt der Atem. Mein Brustkorb zieht sich schmerzlich zusammen.
    «Um Gottes willen!», entfährt uns wie aus einem Mund. Er zerrt das Gemälde heraus.
    «Das ist das Haus aus meiner Erinnerung!»
    Ich habe das Gefühl, außerhalb meines Körpers zu schweben. Da ist es – vor Jahren auf Leinwand gebannt. Die weiße Holzfassade, die riesige Veranda mit der Bank wie aus dem Bilderbuch, die leuchtenden Laternen, die grüne Landschaft im Hintergrund.
    «Es ist genau so, wie du es beschrieben hast.» Auf seinem Gesicht erstrahlt ein breites Grinsen. «Das ist ja ein Ding! Das ist was richtig Handfestes!»
    «Aber meine Mutter! Sie wusste nicht, wovon ich spreche. Sie war der Meinung, es wäre keine wahre Erinnerung.»
    «Tja. Das ist eine der wichtigsten Regeln im Journalismus», sagt er, während wir beide das Bild näher unter die Lupe nehmen. «Unglaubwürdige Quellen: Vertraue nie einem anderen, wenn du deine eigene Geschichte erzählen willst.»

[zur Inhaltsübersicht]
    11
    I ndira ist in der Küche beschäftigt. Sie schneidet Tomaten, frisch vom Markt, und arrangiert sie mit Mozzarella und Basilikum auf einem Teller, als sie auf der hinteren Veranda Nells Schritte hört. Die Fliegentür fällt scheppernd zu, und dann steht ihre Tochter vor ihr – genau wie der wütende Teenager von früher. Jamie betritt als Zweiter die Küche. Er legt eine bemalte Leinwand auf den Esstisch und geht wieder hinaus auf die Veranda, um mitzubekommen, was passiert, ohne direkt in der Schusslinie zu sein.
    «Hallo!», sagt Indira, sichtlich darum bemüht, die Fassung zu bewahren, doch das Messer, das klirrend auf die Arbeitsfläche fällt, verrät sie. Sorgsam wischt sie sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab. Es ist ihre erste langsame Bewegung, seit der Besuch im Haus ist, und wäre Nell bei klarem Verstand, würde sie merken, dass Indira versucht, Zeit zu gewinnen. Doch um solche Nuancen zu erkennen, ist Nell zu wütend.
    «Was ist das?», fragt Indira, die Hände noch immer leicht klebrig vom Saft der Tomaten. Sie tritt näher an das Bild heran, obwohl sie genau weiß, was darauf zu sehen ist. «Ist das eins von deinen?»
    «Ja, Mutter! Das ist eins von meinen», presst Nell heraus. Auf ihrer Brust zeichnet sich ein feuerrotes Mal ab, das sich zusehends ausbreitet – ein riesiger Stressfleck, direkt über dem V-Ausschnitt ihres T-Shirts. «Das ist eins von meinen Scheißbildern, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es haargenau die Erinnerung zeigt, von der ich dir erzählt habe. Deren Existenz du geleugnet hast!»
    Indira zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. Zum ersten Mal seit damals im Krankenzimmer in Iowa sieht sie – wenn auch nur einen flüchtigen Augenblick lang – geschlagen aus, erschöpft, mit den Nerven am Ende. Sie spürt, dass Nell ihr zuleibe rückt. Doch dann ist der kurze Moment des Selbstzweifels wieder vorüber, sie richtet sich auf und versucht, nicht zusammenzubrechen.
    Schließlich kennt sie dieses Verhalten. Sie hat sich einen Großteil von Nells Jugend dagegen zur Wehr gesetzt, vor allem in den Jahren, nachdem Francis gegangen war und Nell sich in stoischen

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