Ein Sommer und ein Tag
Gleichmut, Akribie und so unglaublich stark kontrollierte Wut flüchtete, dass man am Anfang gar nicht merkte, dass sie wütend war. Und sie war wütend. Die endlosen Stunden, in denen sie den Tennisball gegen die Mauer drosch, die Musik in ihrem Walkman so laut, dass man sie noch auf dem Nebenplatz hören konnte. Ihr völliger Bruch mit der Musik, in der sie aufging, seit sie drei Jahre alt gewesen war, und auch mit der Malerei, wozu ihr Vater sie etwa im selben Alter ebenfalls angeregt hatte. Ja, all das kennt Indira nur zu genau, und als sie Nell jetzt in die Augen sieht, reckt sie das Kinn, holt tief Luft und wappnet sich. Sie wird nicht klein beigeben – dazu kennt sie ihre Tochter zu gut, auch wenn sie eigentlich den Eindruck hatte, Nell hätte sich seit dem Unfall tatsächlich verändert. Die Hoffnung hegte, wenn Nell von all ihren Narben und Sünden nichts mehr wüsste, würde sich vielleicht alles ändern, würde sie sich ändern, von Grund auf.
«Setz dich», sagt Indira und deutet auf einen Stuhl.
«Ich will mich nicht auf den verfickten Scheißstuhl setzen!», faucht Nell sie an.
«Nell, Liebes, bitte beruhige dich. Und diese Sprache! Es besteht wirklich kein Grund für diese Ausdrucksweise.»
Nell kaut auf ihrer Unterlippe. Sie weiß nicht, ob sie ihrer Mutter zuhören oder ihrer Wut freien Lauf lassen soll.
«Weißt du, ehrlich gesagt», fährt Indira fort, als Nell sich immer noch nicht hinsetzen will, «ich hatte das Bild völlig vergessen. Und außerdem» – an dieser Stelle rutscht ihre Stimme ein klein wenig hoch, und könnte Nell sich daran erinnern, wie ihre Mutter ist, wüsste sie, dass Indira sich damit verriet – «habe ich mich überhaupt nicht mehr an dieses Haus erinnert, als du mir von deinem Traum erzählt hast.»
«Das war kein Traum, Mutter. Das war eine Erinnerung», bellt Nell. «Und das ist unter den gegebenen Umständen ein scheißgroßer Unterschied!»
«Sprich bitte nicht in diesem Ton mit mir. Ich hasse es, wenn du wütend bist – das ist dein altes Du, das Du aus der Vergangenheit! Das haben wir doch hinter uns gelassen. Das hast du mir gesagt! Das hast du dir selbst gesagt: dein neues Ich!» Doch Nells Gesicht ist wie versteinert, unerbittlich, und Indira wird klar, dass der Unterschied zwischen alt und neu im Augenblick keine Rolle spielt. Dass es zwar schon solche Momente gibt, dieser aber nicht dazugehört. «Ich habe mich wirklich nicht daran erinnert, und als es mir schließlich doch wieder einfiel, erst kürzlich, da dachte ich, es wäre in deinem Interesse, es auf sich beruhen zu lassen.»
Nell schnaubt verächtlich, und Indira trinkt einen Schluck Tee und zählt stumm bis zehn. Natürlich sagt sie ihr nicht die ganze Wahrheit, und natürlich geschieht dies nicht nur in Nells Interesse – es geschieht in ihrer aller Interesse. Natürlich erinnert sie sich noch ganz genau daran, wie sie in absoluter Panik zu diesem Scheißhaus gefahren ist, um ihre Kinder zu holen. Natürlich hat sie die Wahl, die Nell getroffen hat, nie vergessen, dass es für Nell immer nur um Francis ging und nie um sie – ihre eigene verdammte Mutter!
Doch von alldem sagt Indira nichts. Stattdessen wechselt sie das Thema: «Hat deine Therapeutin dir eigentlich empfohlen, Yoga zu machen? Ich bin fest davon überzeugt, dass es dir helfen könnte.»
«Hör auf, Mutter, und erzähl mir von dem Haus!»
Indira starrt sie eine Sekunde lang abwägend an. Nell gleitet wieder zurück – das ist der Beweis –, verstrickt sich wieder in ihre alten Gewohnheiten. Diese Wut! Dieses Misstrauen! Dabei würde die Wahrheit die Lage nur noch verzwickter, geradezu ausweglos erscheinen lassen. Und an diesem Punkt war Indira schon einmal, sie hat schon einmal versucht, ihre Tochter zu retten. An dem Morgen, als sie beim Aufwachen Francis’ Nachricht entdeckte – er habe sie verlassen, diesmal endgültig –, da hat sie kurz darüber nachgedacht, den Mädchen zu erzählen, er sei plötzlich gestorben. Doch stattdessen setzte sie die beiden aufs Sofa, stellte ihnen einen Teller mit Butterkeksen und etwas Limonade hin und wurde während des Gesprächs Zeugin, wie die Rotationsachse von Nells Welt knirschend zum Stillstand kam. In den Monaten, den vielen, vielen Monaten, die auf diesen Morgen folgten, hatte Indira versucht, ihr das Meditieren beizubringen und sie zu einer Familientherapie zu überreden, doch Nell war zu nichts zu bewegen gewesen. Es gab keinen Raum, ihrem Vater seine Fehler zu verzeihen
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