Ein Sommer und ein Tag
antwortet er. Jetzt erst bemerke ich, dass er getrunken hat und lallt. Mirauchnich .
«Außerdem sollst du nicht trinken, solange du deine Medikamente nimmst!»
«Ja, Mama. Bin in zwei Minuten da.» Er legt auf.
«Das war nicht zufällig mein Freund, der mich um Verzeihung bitten wollte?», fragt Rory.
Ehe ich antworten kann, steckt Peter den strubbeligen Kopf zur Schlafzimmertür hinaus.
«Hey!», sagt er verschlafen. «Was soll der ganze Trubel?»
«Der Trubel hat seine Gründe», antwortet Rory. «Hugh hat mich verlassen, Anderson ist besoffen, und du hattest das unverschämte Glück, flachgelegt zu werden.»
Er macht große Augen, ich zucke mit den Achseln, und wir kapieren beide, dass es sich jetzt kaum mehr leugnen lässt, also, was soll’s? Er kommt ins Wohnzimmer geschlendert und macht es sich in dem Sessel gegenüber vom Sofa bequem. Rory und er beäugen sich argwöhnisch. Dann meldet sich der Portier, um Anderson anzukündigen.
Als ich Anderson einen Willkommenskuss gebe, rieche ich den Whiskey. Seine Wangen sind klebrig von der Hitze.
«Die Fotografenmeute hat mich bis hierher verfolgt», sagt er. «Die gönnen mir keine einzige Atempause. Sie warten vor dem Haus.» Einen flüchtigen Augenblick lang fällt mir wieder ein, wie verschieden wir sind, wie weit entfernt unsere beiden Welten waren, ehe sie buchstäblich miteinander kollidiert sind.
«Als wäre irgendwer von uns imstande, demnächst das Haus zu verlassen», murmelt Rory. «Und außerdem: Warum bist du nicht in Saint Barts oder auf den Hamptons oder an sonst einem schicken Promi-Ort?»
«Reisen ist mir im Moment zu viel», sagt er von der Küche aus. Er steht über das Spülbecken gebeugt und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Sein auf alt getrimmtes blassgrünes Designer-T-Shirt wird ganz nass dabei.
«Und in welchen Schnapsbottich bist du gefallen?», will ich wissen.
«Kein Urteil, bitte!» Er richtet sich auf und hält ein Glas unter den Wasserhahn.
«Das ist nicht ganz einfach», brumme ich.
«Urteile sind ihre Spezialität», wirft Rory ein, die immer noch ausgestreckt auf dem Sofa liegt, «zumindest, wenn es um andere geht.» Peter hebt die Augenbrauen und fährt sich mit den Händen über das Gesicht.
«Halt den Mund, Rory!», sage ich. Und plötzlich, einfach so, hat sich der Knoten gelöst.
Verlegen sieht Rory Peter an und dann mich.
«Du hast recht», gesteht sie aufrichtig zerknirscht ein. «Das war unfair. Hört nicht auf mich. Ich bin im Augenblick unzurechnungsfähig.»
«Wie wunderbar», mischt Anderson sich ein.
«Und du spar dir deinen Sarkasmus und halt auch einfach die Klappe!», fahre ich ihn an. Ich bin überrascht, wie schnell ich umkehren kann, wie schnell sich der Schalter umlegen lässt. Ich soll im Augenblick leben! Was habt ihr eigentlich alle für ein Problem? Warum müsst ihr mir das ständig kaputt machen, verdammt noch mal!
«Das war kein Sarkasmus – ich habe von dem Bild gesprochen!» Er deutet auf den Sonnenuntergang – oder was auch immer – über dem Kaminsims.
«Das ist von meinem Vater», sagen Rory und ich gleichzeitig.
«Wir dürfen uns was wünschen!», sagt Rory, aber keiner bringt die Kraft auf zu lachen.
«Ach so. Tut mir leid!», sage ich zu Anderson.
«Macht nichts.» Er winkt ab und setzt sich zu Rory auf die Couch. Ich mustere nachdenklich das traurige Häuflein Elend, das in meiner Wohnung versammelt ist. Dann fängt Anderson leise an zu schnarchen, Peter zieht sich ungefragt ins Schlafzimmer zurück, und Rory macht es sich in dem Sessel bequem, die Beine auf die Fußbank gestreckt. Ich decke erst Anderson und dann auch Rory mit einer Wolldecke zu, lehne mich gegen die Durchreiche und starre das Gemälde an. Den Blick auf die Brillanz meines Vaters geheftet, denke ich darüber nach, wieso ich diese überwältigende, jeden Raum beherrschende Erinnerung an ihn behalten habe, in meiner Wohnung, in meinem Heim, ausgerechnet an dem Ort, von dem ich ihn doch völlig hätte verbannen müssen. Ich starre die Rot- und Goldtöne an, die grausamen schwarzen Flächen und versuche, diesen Widerspruch zu verstehen, die Erkenntnis zu verdauen, dass ich mir trotz der unzähligen Wunden, die mein Vater mir zugefügt hat, offensichtlich nie gestattet habe, ganz zu heilen.
Was hatte Liv gesagt? Wir hätten bei allem, was wir kontrollieren können, die Wahl? Ich schließe die Augen und versuche herauszubekommen, was sich weiter weg anfühlt: die Zeit, in der ich noch die Kontrolle hatte,
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