Ein Sommer und ein Tag
Handgelenks – kommt mir plötzlich vertraut vor, ganz wie ein Déjà-vu.
Mein Vater. Ja. Ich erinnere mich an meinen Vater. Wie alt ich da wohl war? Wie mit feinen Sensoren taste ich die Synapsen in meinem Gehirn ab. Dreizehn? Ich schüttle den Kopf. Nein, das war nicht der Sommer in Virginia. Das war früher. Zehn. Vielleicht war ich zehn. Ich kann den Geruch wahrnehmen, eine Mischung aus Farbe und Zigarettenrauch, und ich sehe den Glanz der Staffelei vor mir, beleuchtet von dem dämmrigen Schummerlicht im Raum. Und auch, wenn ich vielleicht gerade alles durcheinanderbringe – meinen Traum, die Erinnerung an die Silvesternacht und jetzt das hier –, könnte ich schwören, dass im Hintergrund die Stones zu hören sind. Wo sind wir? Mein Verstand rast jetzt, auf der Jagd nach irgendwelchen Hinweisen. Und dann kommt es zurück. Seine Werkstatt. Wir sind in Vermont, und er lehrt mich die Kunst, loszulassen, sich dem Zufall hinzugeben, die Kunst, ein Kunstwerk zu schaffen, das man nicht unter Kontrolle hat.
«Aber es ist nicht außerhalb deiner Kontrolle, Nell. Es mag zwar so wirken, als sei es außerhalb deiner Kontrolle, doch das ist es nie wirklich.» Er nahm mein Handgelenk, führte es mitsamt dem Pinsel weit über meinen Kopf und ließ es in Richtung Leinwand nach vorne schnellen. Magentarote Farbe breitete sich aus wie ein Feuerwerk. «Siehst du, mein Schatz? Sieh her. Du hast gerade Schönheit geschaffen.» Er beugte sich zu mir herunter, um mir einen Kuss zu geben, und ich konnte – kann immer noch – seinen Nikotinatem riechen. Und dann trat ich einen Riesenschritt zurück, als wollte ich einen Baseball oder ein T-Shirt in den Wäschekorb werfen, und ließ die Farbe los.
Ich stehe da und starre gebannt auf den Wäschekorb, versuche, mich an noch mehr zu erinnern – wo war meine Mutter? Wo Rory? Was war mit ihnen? Aber es kommt nichts mehr; offensichtlich ist es für den Augenblick genug. Am liebsten würde ich nach dem Telefon greifen, um Liv anzurufen, doch es ist noch zu früh. Stattdessen nehme ich das Skizzenbuch zur Hand, das mir Jasper mit zwanzig Jahren Verspätung übergeben hat, und schlendere in ausgelassener Stimmung ins Wohnzimmer hinüber, weil offensichtlich wenigstens noch irgendwas funktioniert . Kontakte werden neu gelötet, Synapsen neu verknüpft, Schaltkreise neu gelegt.
Ich gehe in die Küche und befülle die Kaffeemaschine mit einer großzügigen Portion Kaffeepulver. Peter hat mir eine Nachricht unter den Smiley-Magneten an den Kühlschrank gehängt: Mache eine frühe Runde Sport. Bin um sieben wieder da. Mir war seine Abwesenheit ehrlich gesagt überhaupt nicht aufgefallen.
Die Kaffeemaschine vollendet glucksend ihr Werk, ich schenke mir eine Tasse ein, nehme das Skizzenbuch vom Boden und lasse mich auf die Couch sinken.
Beim vorletzten Bild halte ich inne. Ich drehe das Buch seitwärts, dann wieder hochkant, betrachte es von allen Seiten. Es unterscheidet sich wesentlich von allen anderen und erinnert mich an ein Gemälde von Georges Braque, das ich in einem der Bücher im Regal entdeckt habe: Die Seite ist übersät mit splittrigen Fragmenten, als hätte mein Vater gemalt, was er im Geiste vor sich sah, und das Bild dann wie einen Spiegel fallen lassen, sodass sich die Scherben in alle Himmelsrichtungen verteilten. Ich drehe das Bild immer wieder herum und versuche, die Einzelteile richtig zusammenzusetzen. Langsam enthüllt sich mir aus dem kunstvollen Wirrwarr ein Auge, dann ein zweites, dann der Schwung einer Nase, die Andeutung von Lippen. Aber Heather ist es nicht, das weiß ich, obwohl ich sie nur im Traum gesehen habe. Diese Augen sind jünger, unerfahrener. Vielleicht, denke ich, sind das meine Augen.
Ich greife zum Hörer. Es ist immer noch früh, aber was soll’s? Beim zweiten Klingeln meldet sich eine verschlafene Männerstimme.
«Hallo?» Ich werfe einen Blick auf das Display, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verwählt habe. «Ist Rory da?», frage ich. Der Mann stöhnt, ich höre Bettwäsche rascheln, und dann ist meine Schwester am Apparat.
«Was?», fährt sie mich an, ohne sich mit einer Begrüßung oder Erklärung aufzuhalten, weshalb ein wildfremder Mann nicht nur an ihr Telefon geht, sondern offensichtlich auch neben ihr im Bett geschlafen hat.
«Dad!», sage ich. «Ich will, dass du mich auf den aktuellsten Stand bringst. Du musst mir alles sagen, woran du dich erinnern kannst.»
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18
R ory reibt sich die Augen,
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