Ein Sommer und ein Tag
Pizza und steckt sie sich in den Mund. Im selben Augenblick klingelt ihr Telefon.
«Entschuldigt bitte eine Sekunde.» Sie lässt sich so lässig aus der Nische gleiten, wie sie gekommen ist. Ich beobachte, wie sie am Tresen ein Stück Käsepizza bestellt, einen Stift aus ihrer Handtasche kramt, sich auf eine Serviette ein paar Notizen macht und wieder zu uns zurückkommt.
«Ruf mich mal an», sagt sie, das Telefon immer noch in der Hand, und wirft die Serviette mitten auf den Tisch. Sie dreht sich wieder um, holt an der Kasse ihre Pizzaschachtel ab, und weg ist sie. Ihr Geschnatter hängt noch in der Luft. Die Tür fällt krachend zu, und eine Sekunde lang erinnert Tina mich an diese Wirbelwinde in den Zeichentrickfilmen aus dem Kinderprogramm. Mit gerunzelter Stirn versuche ich, die Erinnerung einzuordnen. Wile E. Coyote. Ja, genau. Die blonde Version eines herannahenden Wirbelsturms. Und dann fällt mir noch etwas ein – warum mir ihr Name so bekannt vorkommt. Es ist nicht nur das Highschool-Jahrbuch. Nein, natürlich nicht. Der Name war in meinem Tischkalender eingetragen. Tina Marquis . Vergangenheit trifft Gegenwart – eine Kollision aus Zeit, Erinnerung und Zufall. Ich wollte offensichtlich umziehen, aber wohin? Und wozu?
«Was soll das denn nun wieder alles bedeuten?», will Jamie wissen.
Ich zucke mit den Achseln und stecke ihre Telefonnummer ein. Das würde ich auch gern wissen. Was soll das alles bedeuten? Jeder Mensch hat seine Geheimnisse , hatte Jamie vorhin erst gesagt. Wie sich rausstellt, hat er recht: Auch ich bilde da keine Ausnahme.
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17
«You Can’t Always Get What You Want»
The Rolling Stones
***
A n diesem Abend schlafe ich früh ein und träume zum allerersten Mal vom Absturz. Ich wache um 00:47 Uhr auf, die Bettwäsche ist schweißnass, der Platz neben mir leer. Peter ist immer noch bei der Arbeit – er wird gegen eins zu Hause sein, hat er vorhin geschrieben. Irgendeine musikalische Fernsehjingle-Katastrophe, aber was genau, weiß ich nicht. Ich verdränge die Zweifel, die wider bessere Vorsätze an mir nagen, schließe die Augen und bin sofort wieder an der Stelle, wo ich war, als ich aus dem Schlaf hochschreckte.
Ich sitze im Flugzeug. Nicht in irgendeinem Flugzeug, sondern in dem Flugzeug, der dem Untergang geweihten Boing 757, die mich so unfeierlich über einem Feld in Iowa ausgespuckt hat. Doch im Moment ist alles wunderbar, nichts schwankt, nichts wackelt, kein Sturzflug deutet darauf hin, dass die meisten von uns gleich ein grausames Schicksal ereilen wird. Die Flugbegleiterin ist meine Mutter, und als der Pilot sich aus dem Cockpit meldet, ertönt Jasper Aarons Stimme in der Kabine.
«Also, Leute, so wie’s aussieht, haben wir einen superruhigen Flug vor uns», verkündet er. «Bleibt bitte trotzdem angeschnallt, man weiß ja nie, was kommt.» Die schlimmste aller schlimmen Floskeln.
Anderson sitzt neben mir – genau wie damals –, nur dass wir diesmal nicht erste Klasse fliegen – in der Reihe, die uns das Leben gerettet hat –, sondern Economy. Ich habe einen unbequem schmalen Mittelplatz, der immer enger wird. Ich komme mir vor wie in einer Müllpresse, die von beiden Seiten meine Hüftknochen und Ellbogen zusammenquetscht, und ich versuche mit rudernden Schultern, mir mehr Platz zu verschaffen. Auf dem anderen Platz neben mir sitzt Rachel Green aus Friends. Sie sieht perfekt aus, ihr Haar glänzt, und ihre Haut schimmert. Ich will mich an ihr festkrallen, weil bei Friends nie etwas Schlimmes passiert, und falls doch, treffen sich, während der Abspann läuft, alle im Central Perk, um einander zu trösten.
Die Armlehnen bohren sich inzwischen in meine Taille, und meine Mutter – fünfzehn Jahre jünger als in Wirklichkeit – beugt sich über mich und bietet mir etwas zu trinken an. Ich bestelle Mineralwasser, Anderson möchte eine Bloody Mary und Rachel gar nichts. Doch statt sich die Kopfhörer wieder in ihre eigenen Ohren zu stecken, rammt sie die Knöpfe in meine, und zwar ziemlich brutal. So brutal, dass ich zusammenzucke – ich spüre das Zucken sogar im Schlaf. Sie hört die Rolling Stones. Ich kenne den Song von meiner Playlist, und für einen kurzen Augenblick sehe ich mich an einem Silvesterabend – eine in den Traum gebettete Erinnerung – zusammen mit Tina Marquis und anderen Mädchen aus der Highschool, die nur schemenhaft die Szene bevölkern, die Arme in die Luft werfen, wobei wir zur Decke hinaufgrölen: «If you
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