Ein Sommer und ein Tag
Die Menschen sind, wie sie sind. Vielleicht entwickle ich mich einfach weiter.»
«Kann man sehen, wie man will.»
Rory sieht ihre Schwester prüfend an und fragt sich, ob Nell heute wieder so reagieren würde wie damals, vor einem halben Jahr, als sie ihr die Sache mit Peter gesteckt hat, Peters Seitensprung. Ob sie immer noch mit demselben ätzenden Tonfall die Überbringer der schlechten Nachricht killen würde, indem sie Rory vorwarf, nur deshalb an die Richtigkeit ihrer Nachricht glauben zu wollen, weil sie den endgültigen Triumph über Nell bedeutete. In allem! Nicht nur, dass sie hübscher, cooler, umgänglicher war und leichter mit Mom zurechtkam, nein! Jetzt konnte sie auch noch triumphierend auf Hugh zeigen und sich ihr zusätzlich auf dem Gebiet glücklicher Partnerschaften haushoch überlegen fühlen. Rory hatte mit Spott reagiert – nein, es war mehr als Spott gewesen. Sie hatte mit unverhohlenem Hohn auf dieses gänzlich lächerliche Getue reagiert, und dann ergab ein Wort das andere: dass es Rory schließlich auch nie etwas ausgemacht hätte, dass Nell Daddys Liebling war, und auch nicht, dass Nell ihr das ständig unter die Nase reiben musste. Auch dabei war es nicht geblieben, und sie hatten sich beide Dinge an den Kopf geworfen, die sie hinterher gern zurückgenommen hätten, was natürlich nicht möglich war.
«Ich versuche, – weißt du, jetzt habe ich doch diese neue Couch», sagt Nell. «Und ich glaube, ich werde mir auch was Neues zum Anziehen kaufen. Aber sind wir im Grunde nicht trotzdem, wer wir sind?» Nell weiß nicht mehr, was sie glauben soll. Sie hat sich das Versprechen gegeben, eine andere zu sein, aber untrennbar an dieses Versprechen ist die Vorstellung geknüpft, dass der Absturz ein Segen gewesen sein könnte. So viele Menschen sind gestorben, und auch wenn sie diese zweite Chance erhalten hat, einen neuen Versuch, die Möglichkeit zur Rundumerneuerung, erscheint ihr die Vorstellung, der Absturz könnte ein Segen gewesen sein, fast anstößig – zu trivial, zu abgedroschen, zu banal.
Rory murmelt etwas Unverständliches, weil sie auch keine Antwort darauf hat.
«Wie auch immer», sagt Nell und bestellt sich, als die Kellnerin wiederkommt, einen Bagel mit Butter. «Dad.»
Rory fühlt sich viel zu verkatert und innerlich zu zerrissen für diese riesengroße Aufgabe, aber sie nickt und tut so, als wäre sie bereit, bereit dafür, Antworten auf alle Fragen zu geben, die sich ihr stellen mögen. Sie hat ihrer Mutter versprochen, nicht zu weit zu gehen, Nell nicht noch einmal ganz hineinzutauchen in ihre Vergangenheit. Und außerdem hat sie ihre ganz eigenen Probleme mit Nell, Probleme, die sie mit Freuden hinter sich lassen würde. Also nippt sie an ihrem Kaffee und überlegt, welche Version der Wahrheit sie ihrer Schwester gefahrlos auftischen kann. Wenigstens ist sie von beiden die bessere Lügnerin. Immer schon gewesen. Ein Talent, das sie von Indira geerbt hat.
«Ich hatte letzte Nacht einen merkwürdigen Traum», erzählt Nell. «Ich war in dem Flugzeug. Mom war da, Jasper war da, Anderson war da.»
Als Nell Andersons Namen erwähnt, hätte Rory sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckt. Sie würgt das, was gerade in ihrem Mund ist, mühsam hinunter, und versucht, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen. Oder ihre Schuldgefühle. Oder ihr Bedauern. Was genau eigentlich? Anderson musste ihr versprechen, dass er so tun würde, als wäre es nie passiert. Heute Morgen, als er den Reißverschluss zuzog, den Hosenknopf schloss, sich ein Hemd überzog und den Körper wieder bedeckte, den Rory in der Nacht zuvor, nach vier Schnäpsen zu viel, gnadenlos entkleidet hatte. Es war nicht geplant gewesen. Natürlich nicht. Sie waren sich zufällig in einem Club über den Weg gelaufen. Rory gab ihr Bestes, so zu tun, als würde sie Hugh nicht vermissen, und Anderson gab sein Bestes … na ja, eben einfach sein Bestes, wie Rory inzwischen vermutete. Nell hat seine Stimme heute Morgen am Telefon nur nicht erkannt, weil er heiser gewesen war von dem vielen Geschrei, mit dem sie sich über die laute Techno-Musik hinweg verständigt hatten. Gott sei Dank, da waren sie sich beide einig gewesen, als sie, beinahe wieder nüchtern, die Situation betrachteten und versuchten, sich über mögliche Konsequenzen klarzuwerden.
«Und was hat dein Traum mit Dad zu tun?», fragt Rory.
Nell schüttelt den Kopf. «Weiß ich nicht. Irgendwas. Also» – sie wirft mit einer Handbewegung die Haare
Weitere Kostenlose Bücher