Ein Sommer und ein Tag
Mascarakrümel rieseln ihr von den Wimpern. In dem Diner hängt der Geruch nach gebratenen Eiern und verbrannten Kartoffelpuffern in der Luft, und die Studentenclique in der Nachbarnische – die Mitglieder haben sich eindeutig die Nacht um die Ohren geschlagen – lacht zu laut, pfeffert Rory schamlos ihre Jugend um die Ohren und erinnert sie daran, dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich so schnell zu regenerieren, wie sie es mal konnte.
«Okay! Erstens: Du erhältst hiermit das strikte Verbot, je wieder vor halb neun Uhr morgens bei mir anzurufen! Verstanden?», fängt Rory an und wendet abrupt den Kopf. «Herrgott! Kann die Kellnerin jetzt bitte endlich mit dem verdammten Kaffee kommen?»
«Verstanden», antwortet Nell.
«Zweitens: Wozu die Eile? Hättest du nicht wenigstens eine anständige Uhrzeit abwarten können? Mit dem Entschluss, dir unsere netten Kindheitsgeschichten erzählen zu lassen, hast du dir doch auch zwei Monate Zeit gelassen.» Sie reibt sich wieder die Augen. Ihr Kopf fühlt sich an wie im Schraubstock, als würde ihr jemand mit dem Vorschlaghammer eins gegen die Schläfen geben. Ein Bild von letzter Nacht blitzt in ihr auf. Oh, Gott! Letzte Nacht! Wenn sie noch länger daran denkt, kotzt sie ihr Hirn raus, direkt hier auf den Formicatisch, während Lady Gaga im Hintergrund dazu singt. Sie zuckt zusammen, wünschte, jemand würde die Musik leiser und den Dauerlärm aus der Küche sowie dieser Scheiß-Uni-Kids einen Meter weiter endlich abstellen.
«Deshalb», sagt Nell und zieht ein Skizzenheft aus der Tasche. «Das hat mir Jasper Aarons gegeben.»
«Der Freund von Dad?» Rory versucht, sich zu konzentrieren, sich nicht zu verraten, denn natürlich weiß sie, wer Jasper Aarons ist. Ihre Mutter hätte neulich in der Galerie bei seinem Anblick fast einen hysterischen Anfall bekommen.
«Ja. Ich habe mich mit ihm auf einen Kaffee getroffen. Er sagt, er hätte das Heft schon jahrelang.»
«Warum hat er so lange gewartet?» Rory winkt hektisch nach der Kellnerin und formt mit lautlosen Lippen übertrieben das Wort Kaffee.
«Geht es dir nicht gut?», fragt Nell.
«Völlig verkatert», antwortet Rory knapp. Das ist nur die halbe Wahrheit, aber es muss im Augenblick als Erklärung genügen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie sich schuldig oder eher ein bisschen siegreich fühlen soll. Ein Blick auf ihre völlig ahnungslose Schwester genügt, um sich Klarheit zu verschaffen: schuldig. Eindeutig schuldig. Nell auszustechen hat ihr immer Spaß gemacht, bis es auf einmal kein Spaß mehr war. So wie jetzt. Das, hier, jetzt – das ist definitiv kein Spaß. Scheiße. Sie wünschte, sie könnte die Uhr um zwölf Stunden zurückdrehen.
«Offensichtlich kommst du gut über Hugh hinweg», sagt Nell. Endlich bewegt die Kellnerin sich mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen auf sie zu. «Hat sich zumindest so angehört. Heute Morgen, als ich angerufen habe.»
Rory beugt sich musternd vor, sucht nach einer Verurteilung in der Aussage – normalerweise hätte sie jetzt bereits ein saftiges Urteil um die Ohren gehauen bekommen, doch da ist nichts zu finden, und das setzt ihr noch mehr zu. Die Dinge sind nicht mehr so, wie sie mal waren. Natürlich erinnert Nell sich nicht mehr daran, wie es mal war, aber Rory schon, und während Nells Art sich völlig verändert hat, mitfühlender geworden ist, netter, hat Rory einfach weitergemacht wie immer. Wie du mir, so ich dir. Wenn Nell sagt, sie kann springen, muss Rory versuchen, höher zu springen. O Gott, denkt sie.
«Ach, nur eine von diesen Geschichten – eine einmalige Sache. Ein One-Night-Stand», winkt Rory ab. «Nicht der Rede wert.»
«Ist doch nicht schlimm», sagt Nell leichthin, einfach so.
«Was? Keine Gemeinheiten? Keine Spitzfindigkeiten? Kein moralischer Vortrag darüber, was ich mir damit antue? Dass ich aufhören muss, mich wie ein kleines Kind zu benehmen? Endlich erwachsen werden soll? Verantwortung für mich übernehmen muss?» Rory stürzt einen halben Becher Kaffee auf einmal hinunter und quittiert die Wohltat mit einem Seufzer.
«Wieso sollte ich?», fragt Nell zurück und nimmt auch einen Schluck.
«Wegen … wegen früher. Früher hättest du so reagiert.»
«Früher ist vorbei.» Nell zuckt mit den Achseln.
«Du hast dich verändert.» Rory winkt wieder nach der Kellnerin. Haferbrei. Das ist genau, was sie jetzt braucht. Um den restlichen Tequila aufzusaugen, bevor er in ihren Organen versickert.
Nell muss lachen. «Keine Ahnung.
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