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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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zurück –, «fangen wir am besten so an: Ich weiß, dass du nicht immer gut mit ihm zurechtgekommen bist, aber wie ist das mit mir gewesen? Woran kannst du dich erinnern? Was ihn und mich betrifft?»
    «Ich bin ganz gut mit ihm ausgekommen. Ich habe ihn nur einfach nicht idealisiert, das ist alles», sagt Rory. «Im Gegensatz zu dir. Du hast ihn idealisiert. Du hast ihn absolut angebetet.»
    «Ein Beispiel?»
    Rory reibt sich die Augen. «Als Dad uns verlassen hat, hast du es nicht glauben wollen. Du hast dich ein halbes Jahr lang geweigert, es zu glauben.»
    «Das klingt doch normal. Ich meine, wir waren Kinder. Wer würde sich denn nicht wünschen, dass sein Vater wiederkommt?»
    «Nein, es war nicht nur das. Es war nicht normal. Darum geht es.»
    Rory presst sich die Daumen an die Schläfen, um den pochenden Schatten loszuwerden, den der Tequila dort hinterlassen hat. «Mom hat versucht, mit dir zu reden – ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie sie eines Abends beim Essen versuchte, mit dir zu reden. Es gab Reis und Bohnen, weil sie ausgeflippt ist, als Dad uns verließ und gerade Vegetarierin geworden war. Du hast darauf bestanden, dass für ihn mit gedeckt wird. Sie weigerte sich, weil sie fand, dass du endlich akzeptieren müsstest, dass er weg war. Aber du hast ständig weiter an ihr rumgenörgelt. Nein, es war mehr als Nörgeln, es war wie Sticheln, Piesacken – du konntest einfach nicht damit aufhören.»
    Die Kellnerin bringt das Frühstück und stellt die Teller vor sie beide hin. Nell beißt ein Stück von ihrem Bagel ab, die Augen starr geradeaus gerichtet, in dem Versuch, sich zu erinnern.
    «Mom hat also weiter nein gesagt», fährt Rory fort, «und du hast weiter darauf beharrt, dass er mit Sicherheit wiederkommen würde. Wir müssten nur ganz eindeutig klarmachen, wie sehr wir uns wünschten, dass er wiederkommt, weil er sonst natürlich nicht zurückkommen würde, und warum sie das nicht kapiert.»
    «Und was hast du getan, während wir uns stritten?»
    «Ich saß auf meinem Stuhl und sah zu. Das war der Unterschied zwischen uns. Ich habe es einfach sofort akzeptiert. Eines Morgens wachten wir auf, alle seine Sachen waren verschwunden, und er hat für jede von uns eine mickrige Postkarte mit einer kleinen, beknackten Scheißzeichnung dagelassen – wahrscheinlich, um uns damit seine Liebe zu zeigen oder was auch immer –, und mir war sofort klar, dass es seine Art war, uns unwiderruflich auf Wiedersehen zu sagen. Ich habe meine Zeichnung noch in derselben Woche in den Müll geworfen. Und du? Du hast deine in deinem Zimmer an die Pinnwand geheftet, bis du nach einem halben Jahr endlich auch kapiert hast, was er dir damit sagen wollte – die Karte als Abschiedsbrief eines Lebensmüden, wenn man so will.»
    «Sag das nicht so», sagt Nell.
    «Siehst du, du tust es immer noch – du verteidigst ihn.»
    Nell beugt sich vor, taucht den Zeigefinger in Rorys Haferbrei, um ihn zu probieren, und denkt nach. Dann sagt sie: «Und? Was ist an dem Abend beim Essen passiert? Wer hat gewonnen?»
    «Keine.» Rorys Zähne schaben über den Löffel. «O Gott, es war furchtbar. Du wolltest nicht aufgeben, sie weigerte sich, einzulenken, und irgendwann hast du dann versucht, am Herd selbst einen Teller für ihn herzurichten. Mom wollte dir den Weg abschneiden, du hast sie geschubst, dann sie dich …» Plötzlich ist Rory furchtbar schlecht, ob vom Tequila oder von der Erinnerung an die alte Geschichte, weiß sie nicht. Sie packt Nells Hand.
    «Das hier», sagt Rory und streichelt mit dem Zeigefinger über die Narbe, die sich über das Handgelenk schlängelt. «Das stammt von damals.»
    Nell entzieht Rory ihren Arm und mustert das Resultat jenes Abends.
    «Es war nicht ihre Schuld», murmelt Rory leise. «Ich meine, sie hat es nicht mit Absicht getan. Sie hat dich nicht absichtlich verletzt.»
    «Wann ist schon etwas wirklich Absicht?» Nell hebt den Kopf und sieht ihrer Schwester in die Augen.
    Rory seufzt. «Mom war völlig hysterisch, und um fair zu sein, du warst auch nicht gerade ruhig. Ihr wart beide je auf eure eigene Weise total verblendet. Du hast ihn zu sehr geliebt, und sie hat ihn zu sehr gehasst oder … Gott, keine Ahnung. Sich die Schuld gegeben? Ihm die Schuld gegeben? Oder Gott?»
    «Und was dann?»
    «Ihr habt ein paar Tage lang nicht mehr miteinander gesprochen. Du hast deine ganze Zeit damit verbracht, seine Malutensilien wegzuwerfen, Farbdosen, Pinsel und Kittel in den Müll zu

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