Ein Sommer und ein Tag
es versuchen muss. Als ich mich in den Sessel zurücksinken lasse, die Augen schließe, die Kühle im Raum registriere, während die Geschäftigkeit und die Musik vorne in der Galerie zu einem undeutlichen Hintergrundgeräusch verschwimmen, wird mir plötzlich klar, was mir am meisten fehlt: der innere Kompass. Mir fehlt mein Instinkt, der den richtigen einfachen Weg vom steinigen unterscheidet, das Terrain als sicher oder vermint markiert. In einem anderen Leben würde ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen oder meine eigene Geschichte zurate ziehen. Und jetzt, wo mir das alles genommen ist, leide ich am meisten unter dem Mangel grundlegender, natürlicher Intuition. Also verlasse ich mich darauf, dass meine Mutter, meine Schwester, mein Mann, meine Therapeutin und neuerdings sogar mein neuer Freund Jamie mich bei der Hand nehmen und führen. Aber was ist das für ein Leben, wo man sich nicht selbst führen kann?
Als die CD zum nächsten Song wechselt, wird es vorne einen Augenblick lang still.
«Just a small town girl, livin’ in a lonely world. She took the midnight train goin’ anywhere.»
Mich durchfährt es heiß, wie ein Schlag oder der Kick von Drogen, ein Schwall Adrenalin aus meinem Nervensystem. Ich öffne die Faust und starre die drei kleinen Leuchtfeuer an. Sie erzählen mir etwas. Ich spüre es. Ich weiß es. Ganz tief in meinen Eingeweiden versteckt sich mein Instinkt, den ich so verzweifelt an die Oberfläche locken will. Ich mache die Augen wieder zu, lehne mich zurück und lausche, bis sich hinter mir meine Schwester räuspert und sagt: «Mach dir keine Mühe. Hope ist da.»
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21
D er Absturz liegt inzwischen mehr als drei Monate zurück. Der Kalender zeigt ein neues Blatt, die Zeit lässt sich nicht anhalten, auch wenn ich immer noch in einer verworrenen, konfusen Regungslosigkeit gefangen bin. Wundersamerweise würde keiner, der meine Geschichte nicht kennt, der das People -Magazin nicht liest, der kein Zuschauer von American Profiles ist und der nicht allzu tief in mein Gedächtnis vorzudringen versucht, auf die Idee kommen, dass ausgerechnet ich es war, die an jenem letzten Tag im Juni aus den Wolken gefallen ist.
Ich sitze in Livs Sprechzimmer, die einst gebrochenen Rippen in einen grünen Pullover und einen gutgeschnittenen Cordblazer gehüllt, und denke darüber nach, wie weit ich gekommen bin. Vielleicht überhaupt nicht weit, denn mein Gehirn ist offensichtlich nach wie vor noch immer stark beeinträchtigt.
«Sie wirken zerstreut», bemerkt Liv.
Ich sehe mich um. Es ist das erste Mal, dass ich zu ihr komme statt sie zu mir. Ihr Sprechzimmer wirkt warm und gemütlich, aber gleichzeitig auch professionell. Hinter ihr hängt ein gerahmtes Foto von ihr mit einem Labrador, vermutlich Watson, und daneben ein Schnappschuss mit ihren Eltern beim College-Abschluss. Sie ist seitdem kaum älter geworden, vielleicht ein paar feine Fältchen mehr auf der Stirn, die Augen liegen ein wenig tiefer in den Höhlen, aber im Grunde sieht sie noch genauso aus wie auf dem Bild. In mir steigt ein Schwall Tränen auf bei dem Gedanken, dass sie ihre innere Landkarte nie verloren hat. Dass sie lediglich ihr gerahmtes Diplom ansehen muss, das ebenfalls hinter ihr an der Wand hängt, um sich daran zu erinnern, wie sie hierhergelangt ist. Und weshalb.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. «Mir geht es gut. Bin nur etwas müde. Wir haben gestern Abend zu lange geredet. Peter ist heute Morgen geschäftlich verreist. Vielleicht macht mich die Müdigkeit etwas überempfindlich.»
«Worüber haben Sie geredet?»
«Über alles und nichts. Wir saßen zusammen auf dem Klavierhocker. Erst habe ich ein bisschen gespielt, dann hat er ein bisschen gespielt, und dann haben wir zusammen ein bisschen gespielt.» Ich hole tief Luft, reiße mich zusammen. «Er meinte, das hätten wir am Anfang immer getan. Es klingt vielleicht albern, aber ich habe fast das Gefühl, er würde wieder um mich werben.»
«Dann haben die Dinge sich also geändert», sagt sie. Es ist eine Feststellung, keine Frage.
«Vielleicht haben die Dinge sich geändert», antworte ich, weniger skeptisch als beabsichtigt. Aufrichtig enthusiastisch sogar, wenn ich ehrlich bin. Weil es vielleicht tatsächlich stimmt. Vielleicht hat Peter sich wirklich verändert. Vielleicht ist es auch nur anders, weil ich mich nach Aussagen aller Beteiligten verändert habe. Dass man Violett erhält, wenn man Blau und Rot miteinander
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