Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
meinem ganzen Leben noch nie so unterdrückt gefühlt wie gerade jetzt. Die alten Institutionen, die mir als junges Mädchen so zu schaffen machten, sind ein Klacks dagegen. Freiheit. Nicht nur befreit von Leid oder Sehnsucht. Sondern frei, mein wahres Wesen zu akzeptieren und mich darin einzurichten, so, wie ich es in meinen alten Tagebüchern gefordert habe. Vielleicht ist Glück ja nur ein Nebenprodukt des höheren Werts der Freiheit. Ich denke, man spricht dann eher von »Frieden«. Genau den wünsche ich mir. Ich wünsche mir Frieden.
Ich kuschle mich mit Decken und Kissen auf die alten Matratzen. Und dann versuche ich mich an die weisen Worte zu erinnern, die ich zuletzt gehört habe. Sie fallen mir rasch wieder ein. Es war in einem Garten in der Toskana. Erst vor wenigen Wochen. Und sie kamen aus dem Mund eines Mannes. Das erscheint mir wichtig. Vielleicht als Versuch, unwirksam zu machen, was ich erst kürzlich aus dem Mund eines anderen Mannes gehört habe.
Es begann mit einer Nachtigall.
Als begäbe ich mich auf eine Zeitreise, habe ich auf einmal alles präsent. Ich sitze schweigend mit einem Becher Kaffee neben dem Mann, der vor über einundzwanzig Jahren mein italienischer Vater war. Gemeinsam schauen wir auf die Hügel rund um Florenz, und ich wünschte, mein Italienisch wäre besser. Er weigert sich nach wie vor, auch nur ein Wort Englisch zu lernen, außer Hamburger , was er in verächtlichem Ton ausspricht. Doch ich bin wild entschlossen, mein Italienisch auszuprobieren, denn ich habe ihm so viel zu sagen. Etwa, dass ich oft von ihm geträumt habe, und nun sitzen wir tatsächlich hier zusammen. In meinen Träumen kann er allerdings Englisch und versteht mich. Er hört, sieht und versteht mich, und alles ist so voller Leben in diesen Bergen, in denen sein Zuhause liegt.
Doch nun sind wir in der Realität und haben eine beachtliche Sprachbarriere zu überwinden. Ich möchte ihm erzählen, dass ich in Montana ein ähnliches Zuhause besitze. Dass er und seine Familie mich inspiriert haben, mit ihren ausgiebigen Abendessen, bei denen über Politik und andere Ereignisse in aller Welt debattiert wurde. Oder auch die Generationen von Frauen, die nicht nur nach Familienrezepten, sondern immer auch mit der Liebe, die sie für ihre Familie empfanden, gekocht haben. Ich erinnere mich noch an die großmütterliche Warnung der nonna , niemals gegen den Uhrzeigersinn umzurühren: »Du willst die Soße doch nicht verstören!« Ihr Stolz auf die Geschichte ihres Landes und dass sie hart arbeiten, um ihren Besitz zu erhalten, haben mich beeindruckt und angespornt.
»Ich erinnere mich noch an meinen ersten Tag hier«, sage ich in meinem besten Italienisch. »Damals konnte ich noch kein Wort Italienisch, und du hast mich zum Feigenbaum geführt und eine Feige gepflückt. Dann bist du zu einem anderen Baum gegangen, hast eine Walnuss gepflückt, sie mit den
Händen geknackt und dann die Nuss in die Feige gesteckt. Anschließend hast du mich aufgefordert, das mal zu kosten.«
Ich schaue ihn an und sehe, dass ihm Tränen übers Gesicht laufen. Erst lässt er sie fließen, dann wischt er sie mit den Daumen fort. »Das war im September«, sagt er. Era settembre . Er kann die Monate nach den reifenden Früchten bestimmen.
»Ich habe gehört, dass du jetzt eine berühmte Schriftstellerin bist«, sagt er.
»Nein. Nein, nein, nein.« Dabei wackle ich energisch mit dem Zeigefinger, so wie das die Italiener gern tun. Trotzdem fühlt es sich unglaublich gut an zu wissen, dass ich irgendwo auf der Welt einen »Vater« habe, der glaubt, ich hätte inzwischen eine gewisse Berühmtheit erlangt. Am liebsten würde ich ihn dafür umarmen. Stattdessen sage ich: »Nicht berühmt. Meine kurzen Texte werden relativ häufig veröffentlicht. Aber nicht meine Romane – noch nicht. Das ist sehr schwer. So viel Herzblut auf jeder Seite … und dann liegen sie nur stapelweise in meinem Büro.«
Er lächelt und hält mich wohl für bescheiden.
»Ich bin nicht berühmt.« Non sono famosa. So ist diese Familie eben – sie trauen einem stets das Beste zu, niemals etwas Schlechtes. (Erinnert uns das an jemand? In Bezug auf Väter bin ich wirklich ein Glückskind.)
Ein rascher Blick in seine Augen erklärt die Tränen. Vielleicht hat der Grund, warum er niemals von hier fortgehen würde, warum er nie Englisch lernen oder einen Hamburger essen wird, damit zu tun, was passiert, wenn er einer 19-jährigen Amerikanerin eine Feige zu kosten
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