Ein Spiel um Macht und Liebe
die weißen, gut angestrahlten Marmorstatuen, die auf Podesten in den Ecken des Saals standen. Die lebensgroßen Skulpturen stellten allesamt Frauen in dünnen, klassisch drapierten Tuniken dar, die sehr viel Haut freiließen. »Die Griechen und Römer waren ein lockeres Völkchen, nicht wahr?« bemerkte Clare.
Nicholas grinste. »Sehen Sie sich die Statuen mal eine Weile an.«
Sie tat, wie geheißen, und keuchte auf, als eine Skulptur plötzlich die Position veränderte.
»Gütiger Himmel! Sie leben!«
»Rafe mag es, wenn man seine Bälle lange in Erinnerung behält.« Nicholas wies auf eine andere
»Skulptur«. Ein Mann lehnte an einem Podest und sprach mit schmachtendem Blick auf die schöne Frauengestalt ein, die darauf stand. »Ich nehme an, es sind Damen der Nacht, die stattlich dafür bezahlt werden, sich mit weißer Farbe und Puder zu bedecken und den Abend über stillzustehen.
Ich könnte mir vorstellen, daß der Bursche dort drüben gerade versucht, mit seiner
Lieblingsnymphe eine private Abmachung zu treffen.«
»Und der Duke hat nichts dagegen?«
»Nun, ich denke, es würde ihm nicht gefallen, wenn die Dame vom Podest springt und sich mit dem Kerl in einen Alkoven zurückzieht, aber wenn der Ball vorbei ist, können sie wohl tun und lassen, was sie wollen.«
Clare sah, wie die falsche Statue langsam ein geweißtes Augenlid zumachte, um dem Mann, der ihr den Fuß streichelte, zuzublinzeln. Sie hatte so wenig Stoff am Leib, daß man klar erkennen konnte, was für eine bemerkenswerte Figur sie besaß. »Ich verstehe langsam, warum die Leute ihre unverdorbenen Töchter nicht mit herbringen wollen«, sagte sie ein wenig schwach.
Die Musiker auf der Galerie begannen zu spielen, und die Gäste formierten sich zum Tanz. Die Männer bildeten eine Reihe, die Frauen stellten sich ihnen gegenüber auf. Clare bemerkte, daß sie unwillkürlich mit dem Fuß den Rhythmus tappte.
»Hätten Sie Lust zu tanzen?« fragte Nicholas.
»Ich kann es nicht«, antwortete sie, ohne das Bedauern aus ihrer Stimme fernhalten zu können.
»Hm, ich vergaß, daß Tanzen unmethodistisch ist.« Er blickte auf ihren tappenden Fuß herab. Als sie ihn rasch unter den Kleidersaum zurückzog, sagte er: »Das ist ein ziemlich einfacher Volkstanz. Wenn Sie einmal genau zusehen, dann sollten Sie in der Lage sein, mitzumachen, falls sie noch einen spielen. Das heißt natürlich, wenn Ihr Gewissen es zuläßt.«
Nach einer kurzen Überlegung sagte sie: »Mein Gewissen ist seit Wochen durch zahlreiche Schockerlebnisse betäubt. Tanzen kann es kaum verschlimmern.«
Dem ersten Volkstanz folgte ein ähnlicher, und Clare und Nicholas mischten sich unter die Tanzenden. Es machte viel Spaß, und sie stolperte nur ein einziges Mal über ihre Füße, und das zum Glück, als Nicholas gerade nah genug bei ihr war, um sie aufzufangen. Sie stellte fest, daß sie sich prächtig amüsieren konnte, wenn sie ihr Schuldgefühl erst einmal erfolgreich unterdrückt hatte.
Der nächste Tanz war ein Walzer, so daß sie sich von der Tanzfläche zurückzogen. »Und, Clare?
Finden Sie, daß der verderbte Walzer so aussieht, als würde er die westliche Zivilisation zum Sturz bringen?« fragte Nicholas.
»Wohl nicht.« Sie beobachtete die Paare, die über das Parkett schwebten. »Für mich sieht es so aus, als müßte es wunderschön mit einem Partner sein, den man gern hat, und ganz scheußlich mit einem, den man nicht ausstehen kann.«
»Wenn Sie Lust haben, kann ich Ihnen einen Tanzlehrer besorgen, der es Ihnen beibringt. Es ist nicht ganz so einfach, es ohne Einweisung zu lernen.«
Das Angebot war verlockend, aber ihr Gewissen war wohl doch noch nicht ganz abgestorben.
»Vielen Dank, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich in Zukunft viele Gelegenheiten haben werde, Walzer zu tanzen.«
»Wir werden sehen«, war seine rätselhafte Antwort.
Plötzlich rauschte ein draller Rotschopf auf Nicholas zu. Clare vollkommen ignorierend, warf sie sich ihm in die Arme und quiekte: »Mein lieber Old Nick, du bist wieder zu Hause! Du mußt mich unbedingt besuchen. Hill Street zwölf. Meinem gegenwärtigen Gönner macht es bestimmt nichts.«
Er pflückte sie gelassen von seiner Brust. »Das hast du das letzte Mal auch gesagt, Ileana, und dann mußte ich mich am Ende doch duellieren.
Ich kann von Glück sagen, daß dein Mann der Stunde ein verdammt schlechter Schütze war, denn ich konnte kaum leugnen, daß seine Beschwerde berechtigt war.«
»Ach, Henry
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